Aug in Aug mit dem Neandertaler
Wissenschaftler rekonstruieren das Verhältnis zwischen modernem Menschen und Neandertaler
Mehrere Tausend Jahre müssen Neandertaler und moderner Mensch gleichzeitig in Europa gelebt haben. Wie sich Begegnungen zwischen ihnen abspielten und wie sich beide gegenseitig beeinflussten, ist eine spannende Frage. Antworten darauf suchen Jean-Jacques Hublin und sein Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Dabei haben sie Hinweise gefunden, was die Neandertaler vom Homo sapiens gelernt haben – und was nicht.
Text: Klaus Wilhelm
Woran das Baby starb, weiß niemand. Durch eine Infektion? Den Angriff eines Raubtiers? An einer angeborenen Erkrankung? Vielleicht. Die Eltern jedenfalls ließen das Kind in einer Höhle in Zentralfrankreich zurück, die Prähistoriker heute als Grotte du Renne bezeichnen. Möglich, dass die Eltern ihr Baby sogar in Trauer begraben haben.
Zeitreise: In Leipzig, am Max-Planck- Institut für evolutionäre Anthropologie, befasst sich die Abteilung Humanevolution, mit Jean-Jacques Hublin an der Spitze, mit der Erforschung der menschlichen Vorgeschichte, der Paläoanthropologie. Postdoktorand Frido Welker bereitet Knochenfragmente, teilweise Splitter, aus der Grotte du Renne auf. Bisher waren solche Bruchstücke allen Experten nutzlos erschienen. Genauer gesagt, hatten Paläoanthropologen wie Welker kein Verfahren, um derart lädierten Zeugnissen der Prähistorie Erkenntnisse abzuringen.
Das hat sich geändert dank der sogenannten Paläoproteomik. Diese Methode kann selbst kleinste Spuren von Proteinen in uraltem Knochenmaterial nachweisen und Aufschluss geben über die Identität des einst dahinterstehenden Lebewesens – eine „ziemlich revolutionäre Methode“, wie Jean-Jacques Hublin meint. Proteine überdauern in uraltem Knochenmaterial zehnmal länger als DNA. Die Untersuchung des Erbguts galt bisher als Königsweg, um einen Knochen einem bestimmten Lebewesen zuzuordnen. Die Paläoproteomik könnte der DNA-Analyse diesen Ruf streitig machen. „Die Proteine der steinzeitlichen Knochen“, erklärt Welker, „bergen wertvolle Informationen zur Stammesgeschichte und den Lebensvorgängen dieser Menschen.“
So kam heraus: Das Baby aus der Grotte du Renne war eine kleine Neandertalerin, nicht einmal abgestillt, vielleicht sechs Monate bis zwei Jahre alt am Tag ihres Todes vor 44 000 bis 40 000 Jahren. Ihre spärlichen Überreste bringen mehr Klarheit als je zuvor in einen Jahrzehnte währenden Disput in der paläoanthropologischen Expertenwelt. Teils heftige Debatten kennzeichnen dieses Genre der Forschung. Etwa zur Frage, wie sich Neandertaler und „moderner Mensch“ – also wir – vor rund 45 000 Jahren in Europa begegneten. „Es gab einen kulturellen Transfer zwischen beiden Menschenformen“, ist sich Jean-Jacques Hublin nach den jüngsten Hightech-Untersuchungen seines Teams sicher: „Erst als der Homo sapiens kam, haben die Neandertaler plötzlich Dinge gemacht, die sie niemals zuvor getan hatten.“
Der Leipziger Wissenschaftler geht davon aus, dass es für den Austausch „keinen besonders intensiven Kontakt brauchte“. Geschweige denn ein Liebesverhältnis zwischen Homo sapiens und Homo neanderthalensis, wie es in den vergangenen Jahren allenthalben kolportiert wurde. „Da werden zu viele Geschichten hineingedichtet“, meint der Franzose ganz profan: „Die Wahrheit war höchstwahrscheinlich alles andere als romantisch.“
Die Zeugnisse aus der Jahrtausende bis Jahrmillionen alten Vergangenheit – Knochen, Zähne und Kulturgegenstände wie Werkzeuge oder Schmuck – sind begrenzt. Daraus resultieren oft verbissene Diskussionen. „Das stört mich natürlich“, sagt Hublin, „wir sind gut beraten, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden.“
In der Steinzeit war die Welt fast menschenleer
Betrachten wir also in diesem Licht die Causa Sapiens–Neandertaler, eines der Spezialgebiete des Max-Planck-Wissenschaftlers. Seit 1856 im Neandertal bei Düsseldorf erstmals Knochen dieses Menschentypus entdeckt wurden, ranken sich Legenden um seine Existenz. Vordergründig schon deswegen, weil er so anders aussieht als der moderne Mensch.
Mit seinen maximal 1,70 Metern war er nicht besonders groß, aber von Statur robust und kräftig, mit weit ausladender Brust, die Männer bis zu 90 Kilo schwer. „Sehr eindrucksvoll“, sagt Jean-Jacques Hublin und betrachtet die Skulptur eines Neandertalerkopfes in seinem Büro. Sie wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gefertigt, entspricht aber im Wesentlichen noch heutigem Wissen. Das heißt: Das Gesicht ist groß und lang gezogen, markante Wülste liegen über den Augenbrauen, die Nase ist üppig, der Kiefer massiv, das Kinn eher fliehend. „Träfen Sie in der Straßenbahn einen Neandertaler“, erklärt der Paläoanthropologe, „würden Sie das Abteil wechseln.“
Auch vor rund 45 000 Jahren muss es ein höchst seltsames Ereignis gewesen sein, als sich Exemplare des modernen Menschen Homo sapiens und Vertreter des Homo neanderthalensis erstmals in den Wäldern und Auen Europas begegneten. „Für beide Parteien“, sagt Hublin lachend. Der Neandertaler hatte da neuen Studienergebnissen zufolge schon mindestens 400 000 Jahre auf dem Kontinent hinter sich – in einem Gebiet von Spanien bis zum russischen Altai-Gebirge und bis etwa zur geografischen Höhe von Norddeutschland.
Als Jäger und Sammler durchstreiften seine höchstens 50 bis 60 Frauen und Männer zählenden Gruppen wahrscheinlich viele Tausend Quadratkilometer große Landstriche. Sie erlegten effizient selbst großes Wild wie Bisons und Pferde. Weitaus mehr als gedacht verzehrten sie auch pflanzliche Kost. Und der Neandertaler lebte wohl in schnellerem Tempo. Das Hublin-Team hat aus hauchdünnen Schichten des Zahnschmelzes das Alter eines Neandertalerkindes ermittelt. Dabei kam heraus: Die Kinder dieses Menschentypus reiften ein bis zwei Jahre früher als der Nachwuchs moderner Menschen.
Garstig und lang waren ihre Winter. „Wahrscheinlich starben viele ihrer kleinen Gruppen in langen Hungerphasen einfach aus und wurden durch neue Kohorten ersetzt. Selbst in Zeiten ihrer größten Verbreitung dürfte es nicht mehr als geschätzte 10 000 „Neandertal-Europäer“ gegeben haben. „Die Steinzeit war eine leere Welt“, sagt Hublin. Der Neandertaler ging nach jüngsten Studien mit fast so ausgefeilten geistigen Fähigkeiten durch dieses einsame Dasein wie sein Vetter und künftiger Widersacher. „Er war komplexer, als wir lange Zeit annahmen“, räumt der Forscher ein. Und weiter: „Die beiden Menschentypen sind, kognitiv gesehen, in dieser Zeit fast gleich, definitiv nicht affenähnlich, aber auch nicht wie wir.“
Der Homo sapiens brachte einen überlegenen Geist mit
Technisch war der Neandertaler durchaus versiert, das belegen die filigranen Speere, die er schon in seiner Frühzeit fertigte. Vor etwa 120 000 Jahren entwickelte er sogar eine Werkzeugkultur – oder „Industrie“, wie Paläoanthropologen sagen –, die eine Epoche prägte: das Moustérien. In dieser Zeit produzierte er Werkzeuge wie Pfeilspitzen, Schaber, Kratzer oder Klingen, die auf charakteristische Weise von Steinen abgeschlagen wurden. Artefakte dieser Kultur fanden Forscher in etlichen archäologischen Stätten – etwa in der erwähnten Grotte du Renne im Burgund.
So kam der Neandertaler mit den widrigen Bedingungen in Europa recht gut klar. Vermutlich hätte er noch Zehntausende Jahre überlebt, wenn nicht vor 45 000 Jahren plötzlich eine andere Spezies Europa aufgewirbelt hätte: der moderne Mensch. Die Neuankömmlinge waren viel graziler gebaut als die Alteingesessenen. Vor allem aber brachten sie einen letztlich doch überlegenen Geist mit. Der Homo sapiens verarbeitete nicht nur Steine, sondern er konstruierte Angeln aus Fischgräten, fertigte aus Knochen, Schnecken und Eierschalen Schmuck, und er baute Spitzen für Pfeile und Harpunen. Kaum in Europa eingetroffen, schuf er seine ganz eigene Industrie – diese Epoche wird Aurignacien genannt. Typisch dafür: Projektilspitzen aus Elfenbein und Knochen, damals Jagdtechnologie vom Feinsten.
Seine ältesten Knochenzeugnisse finden sich in Norditalien, und bald schon durchkämmten die modernen Menschen Gebiete östlich des Rheins in Baden-Württemberg, nicht weit entfernt von der Grotte du Renne. Deren Dach ist vor rund 20 000 Jahren zusammengebrochen und hat alles unter sich begraben. Ein Glücksfall für Archäologen, die aus den verschiedenen Schichten der zugeschütteten Höhle seit Jahrzehnten reiche Funde bergen. Denn die Höhle war während der Steinzeit ein offenbar beliebtes Refugium. Immer wieder kehrten hier Menschen ein. Neben den Moustérien- Artefakten in den tieferen, älteren Grabungsschichten stießen die Forscher in oberen, jüngeren Lagen auf Reste der Aurignacien-Industrie.
In einer Zwischenschicht aber fanden sich in der Grotte du Renne – und in weiteren Ablagerungsstätten – Relikte der Kultur des Châtelperronien (CP). Bereits in den 1950er-Jahren wurden etliche Ringe, Anhänger und Spangen aus Elfenbein, Geweih und anderen Materialien gefunden. Ohrgehänge, durchbohrte, mit Rillen versehene Zähne als Schmuckanhänger, Fossilien und so weiter. Ganz typisch sind auch Spitzen oder Messer mit gebogenem, abgestumpftem Rücken. Die elaborierten Utensilien erinnern mithin deutlich an die nachfolgende Aurignacien-Industrie des Homo sapiens. Und nicht an den Neandertaler.
Zugleich aber lagerten in der CP- Schicht der Grotte du Renne gut identifizierbare Knochenreste und Zähne – von Neandertalern, wie eine Studie aus den 1990er-Jahren nahelegte. Doch dann kamen wieder Debatten auf. Britische Forscher wiesen im Jahr 2010 ihrer Ansicht nach Altersunterschiede zwischen den verschiedenen Fundstücken aus der Châtelperronien-Schicht nach. Ihre Deutung: Die Schmuckstücke stammten von modernen Menschen und wurden erst nachträglich, durch das Aufwühlen des Untergrunds, mit den Neandertaler-Relikten vermischt.
Jean-Jacques Hublin mochte das nicht glauben und startete gemeinsam mit internationalen Partnern eine jahrelange Versuchsserie. Zunächst wählte sein Team 40 gut erhaltene Knochenproben aus der Grotte du Renne aus – meist aus Bereichen, die CP-Schmuck oder Überreste von Neandertalern enthielten, seltener aus Schichten des Moustérien oder des Aurignacien. Darüber hinaus untersuchten die Forscher den Schienbeinknochen eines Neandertalers einer anderen berühmten französischen Fundstätte aus Saint-Césaire.
Aus den Knochenproben extrahierten die Wissenschaftler Kollagen, einen organischen Bestandteil des Bindegewebes, bestehend aus Proteinketten. Nun schlug die Stunde der modernen Analysemaschinen. „Ich bin ein Technikbesessener“, erklärt Hublin und lächelt. So stehen in seiner Abteilung ein halbes Dutzend sogenannte Massenspektrometer neuesten Zuschnitts – zum einen Hightech-Waagen, welche die Masse von Atomen und Molekülen messen, zum anderen Beschleuniger-Massenspektrometer, die über den Zerfall verschiedener Kohlenstoffisotope in Molekülen das exakte Alter etwa von Knochen ermitteln können.
Neandertaler übernahmen manche Innovationen
Ergebnis der umfangreichen Analysen: Die Proben aus den Châtelperronien-Schichten sind zwischen 41 000 und 35 500 Jahre alt und damit tatsächlich dieser Kultur zuzuordnen. Zudem überschnitt sich das Alter der Châtelperronien-Stücke nicht mit den Funden aus den übrigen Schichten – eine Durchmischung der Sedimente ist damit ausgeschlossen. Mit einem Alter von 41 500 Jahren passt das Neandertalerskelett aus Saint-Césaire ebenfalls prima ins Bild.
So könnte auch der Neandertaler die CP-Industrien in Frankreich geschaffen haben. Könnte! Noch aber fehlte der eindeutige Beweis, dass die Knochen aus der CP-Schicht der Grotte du Renne einst zu Neandertalern gehörten – und nicht zum modernen Menschen.
So wendete das Team um Hublin in seiner Studie erstmals völlig neuartige Verfahren an: Peptide Mass Fingerprinting und Shotgun Proteomics, zwei spezielle Methoden der Proteomik. Mit diesem Verfahren lässt sich ermitteln, ob ein Kollagen vom Knochen eines Neandertalers oder von dem eines modernen Menschen stammt. Dafür, und das ist entscheidend und neu, genügen schon winzige Knochenproben. Genau deshalb konnten die Wissenschaftler erstmals 28 Knochenfragmente aus einer dem Châtelperronien zugeordneten Sedimentschicht molekular analysieren.
„Sie stammen von Neandertalern“, sagt Frido Welker. Durch die Kombination mit anderen proteomischen Methoden – etwa der Analyse der Sequenz der Aminosäuren eines Eiweißes – und der Paläogenetik stand schließlich fest: Die Knochenfragmente gehörten zu einem Säugling aus dem Châtelperronien. „Unsere Studie belegt, dass es allein mit Paläoproteomik möglich ist, zwischen verschiedenen jungsteinzeitlichen Gruppen innerhalb unserer Gattung Homo zu unterscheiden“, so Welker.
Über den Studien thront die große Frage: Wie hielten sie es miteinander, der Homo sapiens und der Homo neanderthalensis? Die neuen Befunde lassen sich unterschiedlich interpretieren. Man könnte es so deuten, dass der Neandertaler, just als sich der Homo sapiens in Europa ausbreitete, von sich aus einen ungeahnten Entwicklungssprung gemacht hat. „Das würde allerdings an ein Wunder grenzen“, meint Jean-Jacques Hublin. Für ihn ist weitaus wahrscheinlicher, „dass die beiden Menschenformen in Kontakt traten, und der Neandertaler manche Innovationen des modernen Menschen übernahm“.
Vielleicht haben die Neandertaler Werkzeuge und Schmuck des Homo sapiens gefunden – und dann nachgemacht und bei Gelegenheit in benachbarte Gruppen getragen. Den dafür nötigen Verstand hatten sie wohl. Vielleicht hat ihnen ein wohlmeinender moderner Mensch gezeigt, wie man die tollen Dinge fertigt. Vielleicht kam es gar zu Tauschgeschäften. Wer wüsste es? Schon bewegen wir uns wieder im Feld der Geschichten, die wir so lieben. Und schon muss Jean-Jacques Hublin wieder bremsen.
Zwei Prozent unserer DNA stammen vom Neandertaler
Für den Transfer kultureller Innovation brauchte es keine ständige Begegnung und schon gar keine dicke Freundschaft. Auch der moderne Mensch musste das harsche Leben der Jäger und Sammler meistern und konkurrierte mit dem Zeitgenossen der anderen Art um Territorien und Nahrung. Auch wenn es nur Dutzende bis wenige Hundert Gruppen gab, die sich selten trafen in der leeren Welt der Steinzeit, dürften die meisten Begegnungen der Zeitgenossen eher unfreundlich gewesen sein, wenn nicht gar feindselig, aggressiv und gewaltsam.
Dafür gibt es zwar keine handfesten Belege. Allerdings weiß man, dass Begegnungen konkurrierender Stämme in der Menschheitsgeschichte selten sanft verliefen. Daher spricht viel dafür, dass es im Falle des Aufeinandertreffens von Homo sapiens und Neandertaler ähnlich war.
Dabei wurden möglicherweise auch Frauen des Konkurrenten geraubt. So könnten es keine feurigen Romanzen gewesen sein, die zu Sex zwischen den Kontrahenten führten, sondern Gewaltakte. Sie haben bis heute nachweislich Spuren hinterlassen, wie Forscher seit Jahren wissen. Etwa zwei Prozent der DNA in unserem heutigen Erbgut rühren vom Neandertaler her – ein zwar begrenztes, aber langlebiges Erbe dieser längst ausgestorbenen Menschenform.
Zeugnisse der letzten Neandertaler hat die Erde in Schichten freigegeben, die 40 000, vielleicht 38 000 Jahre alt sind. Irgendwann in dieser Zeit verschwand der Letzte ihrer Art. „Wegen uns“, wie Jean-Jacques Hublin lapidar sagt. Rein molekular betrachtet, sind die Unterschiede zwischen modernen Menschen und Neandertalern gering: Gerade einmal 87 Proteine trennen die beiden Arten. Viele davon sind allerdings für die Funktion und die Entwicklung des Gehirns wichtig.
Irgendetwas im modernen Menschen war anders. Womöglich ging er aggressiver zu Werke als sein verwandter Widersacher, wahrscheinlich arbeitete er in größeren Teams und in mehreren Gruppen effektiver zusammen, dort auch mit mehr Empathie und Rücksicht aufeinander.
Dafür haben die Experten einige Hinweise gefunden. Erstens: Schon in ihrer frühen Zeit in Europa haben die modernen Menschen offenbar getauscht. Man findet etwa Muscheln aus dem Mittelmeerraum in Deutschland. „Das deutet auf Netzwerke über größere Räume hin“, meint Hublin, „die Leute wussten, dass jenseits der Berge Artgenossen leben.“ Und sie tragen Schmuck, Deko am Körper, als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft aus Hunderten, vielleicht Tausenden. Menschen, die solidarisch handeln, auch wenn sie sich nicht täglich sehen. In der Welt der Neandertaler fehlt dergleichen.
Der Homo sapiens malte Bilder aus der Fantasie
Zweitens: Ebenfalls schon in seinem frühen europäischen Dasein malte der Homo sapiens an Höhlenwände, und zwar auch Dinge, die real nicht existierten, sondern nur in seiner Fantasie. Zum Beispiel Männer mit Löwenköpfen. Das bedeutet: Der moderne Mensch erkannte Geschichten hinter den Dingen, mythische Elemente und Glauben. „Das ist ein ganz starker Faktor, den der Neandertaler offenbar nicht im Sinn hatte“, sagt Hublin.
Derlei Dinge seien „schwierig zu erforschen“, nicht einmal mit dem Gerätepark im Max-Planck-Institut in Leipzig. Man merkt, wie sehr das den Technikfreak wurmt. Aber wer weiß? Vor 40 Jahren, als er seine Karriere als junger Student begann, glaubte Hublin, dass schon alles Wesentliche der Menschheitsgeschichte erforscht sei und die Methodik keine wesentlichen Fortschritte mehr machen würde: „Mein Irrtum hätte nicht größer sein können.“
GLOSSAR
Paläoproteomik: Bestimmung urgeschichtlicher Funde mittels Proteinanalysen, beispielsweise in Knochenfragmenten.
(Werkzeug-)Industrien: Kulturen der Steinzeit, die durch bestimmte Werkzeuge – zum Teil auch Schmuck und Kunstwerke – und die verwendeten Herstellungstechniken charakterisiert sind.
Moustérien: Werkzeugkultur der Neandertaler, gekennzeichnet durch Pfeilspitzen, Schaber und Klingen, die auf charakteristische Art von Steinen abgeschlagen wurden.
Aurignacien: Kultur, die sich zeitgleich mit dem Auftreten des modernen Menschen in Europa findet. Typisch sind Projektilspitzen aus Knochen und Elfenbein, lange, schmale Feuersteinklingen sowie erste Kleinkunstwerke.
Châtelperronien: Letzte Kultur, die mit dem Neandertaler verbunden ist. Überschneidet sich zeitlich mit dem älteren Aurignacien und ist durch Knochen-, Geweih- und Elfenbeinwerkzeuge sowie Schmuck gekennzeichnet.
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Der Neandertaler hatte ähnliche kognitive Fähigkeiten wie der Homo sapiens in der Steinzeit.
So übernahmen Neandertaler Werkzeugtechniken der zugewanderten modernen Menschen.
Die Überlegenheit des Homo sapiens bestand vermutlich darin, Netzwerke über größere Entfernungen zu bilden sowie künstlerische und mythische Elemente zur Festigung der Gruppe zu nutzen.