Neandertaler dachten wie wir
Bereits vor mehr als 64.000 Jahren schufen Neandertaler auf der Iberischen Halbinsel Höhlenmalereien
Vor wenigstens 70.000 Jahren hat Homo sapiens durchbohrte Muschelschalen und Farbpigmente benutzt. Vor etwa 40.000 Jahren hat er in Europa mobile Kleinkunst, Schmuck und Höhlenkunst geschaffen. Neandertaler schienen zu solchem Verhalten dagegen nicht in der Lage. Mithilfe der Uran-Thorium Datierung konnte ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig aber nun nachweisen, dass Neandertaler schon vor über 115.000 Jahren symbolische Objekte hergestellt und mehr als 20.000 Jahre vor der Ankunft moderner Menschen in Europa Höhlenkunst geschaffen haben. Die geistigen Fähigkeiten der Neandertaler müssen unseren eigenen demnach ebenbürtig gewesen sein.
Die symbolisch-materielle Kultur ist eine Sammlung kultureller und intellektueller Errungenschaften, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, und die bisher nur unserer eigenen Spezies Homo sapiens zuerkannt wurde. „Die Entstehung der symbolisch-materiellen Kultur ist eine fundamentale Schwelle im Laufe der menschlichen Evolution. Sie ist eine der tragenden Säulen dessen, was uns zum Menschen macht“, sagt Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Objekte, deren funktioneller Wert nicht so sehr in ihrer praktischen, sondern in ihrer symbolischen Verwendung liegt, repräsentieren fundamentale Aspekte menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Denkens, so wie wir sie heute kennen.“
Frühe symbolische Artefakte wie mit Pigmenten eingefärbte Muscheln, die möglicherweise als Körperschmuck dienten, sind für das sogenannte Middle Stone Age in Nord- und Südafrika vor rund 70.000 Jahren dokumentiert und werden anatomisch und ihrem Verhalten nach modernen Menschen zugeordnet. In Europa gibt es Belege für Höhlenmalerei, plastische Figuren, verzierte Knochenwerkzeuge und Schmuck aus Knochen, Zahn, Elfenbein, Muschelkalk oder Stein, die auf die sogenannte „Jungpaläolithische Revolution“ vor etwa 40.000 Jahren zurückgehen. Diese Objekte müssen, so die Schlussfolgerung der Forscher, von modernen Menschen geschaffen worden sein, die sich nach ihrer Ankunft aus Afrika über ganz Europa verbreitet haben.
Altersbestimmung von Höhlenkunst
Mehr noch als Körper- und Werkzeugornamentik ist die Höhlenkunst ein besonders eindrucksvolles Beispiel für symbolisches Verhalten. Sie galt bisher als Alleinstellungsmerkmal des modernen Menschen. Ob auch Neandertaler diese Kunstwerke geschaffen haben könnten, konnte bislang nicht geklärt werden, weil es an einer genauen Datierung mangelte. Die Schöpfer von Höhlenkunst können aber meist nicht direkt, sondern nur indirekt über das Alter der Objekte identifiziert werden. „Höhlenkunst genau und präzise zu datieren, ohne sie dabei zu zerstören, war bisher kaum möglich“, sagt Hoffmann. „Dank der jüngsten technischen Entwicklungen können wir jetzt aber mit Hilfe der Uran-Thorium (U-Th) Methode Karbonatkrusten auf den Farbpigmenten datieren und so ein Mindestalter für die Höhlenkunst erhalten.“
Die U-Th Datierung basiert auf dem radioaktiven Zerfall von Uranisotopen in Thorium. Mithilfe dieser sehr genauen Datierungstechnik können Forscher das Alter von Kalkablagerungen bis zu einem Maximalalter von etwa 500.000 Jahren bestimmen. Damit reicht sie erheblich weiter zurück als die Radiokarbonmethode.
20.000 Jahre älter als gedacht
Die Wissenschaftler aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Spanien haben mehr als 60 Karbonatproben von jeweils weniger als zehn Milligramm aus drei verschiedenen Höhlen in Spanien analysiert: La Pasiega im Nordosten, Maltravieso im Westen und Ardales im Süden Spaniens. Sie enthalten meist rote, manchmal auch schwarze Malereien, die Tiergruppen, Punkte, geometrische Zeichen sowie positive und negative Handabdrücke und auch Felsritzungen umfassen.
„Unsere Datierungsergebnisse zeigen, dass die Höhlenkunst an diesen drei Standorten in Spanien viel älter ist als bisher angenommen“, sagt Teammitglied Alistair Pike von der University of Southampton. „Mit einem Alter von mehr als 64.000 Jahren sind sie mindestens 20.000 Jahre älter als die frühesten Spuren des modernen Menschen in Europa. Die Höhlenkunst muss also von Neandertalern geschaffen worden sein.“ Diese frühe Höhlenkunst aus roten Farbpigmenten besteht aus Linien, Punkten, Scheiben und Handabdrücken. Dafür mussten die Schöpfer dieser Kunstwerke zunächst eine Lichtquelle planen, Farbpigmente mischen und einen geeigneten Standort auswählen.
„Neandertaler haben bedeutungsvolle Symbole an zentralen Orten ihres Lebensraumes geschaffen“, sagt Paul Pettitt von der University of Durham, ein weiteres Teammitglied und Spezialist für Höhlenkunst. In der Cueva Ardales, in der aktuell von einem deutsch-spanischen Team Ausgrabungen durchgeführt werden, belegen auch Bodenfunde die Anwesenheit von Neandertalern. „Dies ist sicher nur der Anfang eines neuen Kapitels in der Erforschung der eiszeitlichen Wandkunst“, sagt Gerd-Christian Weniger von der Stiftung Neanderthal Museum Mettmann, einer der Leiter der Ausgrabungen in Ardales.
Neandertaler konnten abstrakt denken
Auf der iberischen Halbinsel reichen Nachweise des symbolischen Verhaltens von Neandertalern sehr weit zurück. In einer zweiten Studie von Hoffmann und Kollegen haben die Forscher das Alter einer archäologischen Fundstätte innerhalb der Cueva de los Aviones, einer Küstenhöhle im Südosten Spaniens bestimmt. Die Höhle enthielt durchbohrte Muscheln, rote und gelbe Farbpigmente und Behälter mit komplexen Pigmentmischungen. Die Forscher haben mit der U-Th Datierung das Alter einer Sinterterrasse ermittelt, die die Ablagerung bedeckt und geschützt hat. „Wir haben die Fundschicht, die unter dem Sinter lag, auf ein Alter von etwa 115.000 Jahren datiert“, sagt Hoffmann. Diese Daten sind sogar älter als ähnliche Funde aus Süd- und Nordafrika, die dem Homo sapiens zugeordnet sind; mit dem Unterschied, dass zu jener Zeit in Westeuropa Neandertaler lebten.
„Unseren neuen Daten zufolge konnten auch Neandertaler symbolisch denken und waren kognitiv nicht vom modernen Menschen zu unterscheiden“, schlussfolgert João Zilhão, Forscher an der Catalan Institution for Research and Advanced Studies und der University of Barcelona in Spanien, der an beiden Studien beteiligt war. „Auf der Suche nach den Ursprüngen von Sprache und entwickeltem menschlichen Wahrnehmungs- und Denkvermögen müssen wir deshalb viel weiter in unsere Vergangenheit zurückblicken: mehr als eine halbe Million Jahre, auf den gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und modernen Menschen.“
SJ/HR