Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht
Das Dilemma der Triage
Die Geschehnisse aus dem italienischen Bergamo vom März 2020 haben sich vielen ins Gedächtnis gebrannt. Tausende Menschen starben dort zu Beginn der Pandemie an COVID-19, die Krankenhäuser waren so überlastet, dass nur noch Patienten mit guten Überlebenschancen auf der Intensivstation aufgenommen wurden. Solche Szenarien kann es auch in der Zukunft wieder geben. Wenn sich Infektionskrankheiten mit großer Geschwindigkeit ausbreiten, ist erneut mit einer Knappheit lebensrettender Ressourcen (vor allem bei geschultem Personal, aber auch bei Medikamenten und Apparaten wie Beatmungsgeräten) zu rechnen. Dann entstehen schwierige medizinethische und rechtliche Fragen. Welche Kriterien sind anzuwenden, um unter Kranken auszuwählen, die mit gleicher Dringlichkeit intensivmedizinische Versorgung benötigen? Welche Vorgaben ergeben sich aus medizinethischen Prinzipien und welche aus der Verfassung? Wer soll Auswahlkriterien festlegen – die Behandelnden vor Ort, medizinische Fachgesellschaften oder der Gesetzgeber? Droht eine Bestrafung wegen Totschlags, wenn ein umstrittenes Auswahlkriterium angewendet wird und die nicht intensivmedizinisch behandelte Person stirbt?
Wie unterschiedlich die Meinungen zu Fragen wie diesen ausfallen, zeigt der Vergleich von zwei Stellungnahmen. Die klinisch-ethischen Empfehlungen deutscher medizinischer Fachgesellschaften vom 17. April 2020 messen den Erfolgsaussichten der Behandlung zentrale Bedeutung bei, und sie gehen davon aus, dass der Einsatz limitierter Ressourcen regelmäßig neu evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden müsse. Letzteres bedeutet auch, dass ein Behandlungsabbruch zugunsten neu eingelieferter Patienten (die sogenannte Ex-post-Triage) zulässig sein kann. Die Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats vom 27. März 2020 setzt dagegen andere Akzente: Sie lehnt negative Auswahlkriterien ab, zu denen zum Beispiel das Alter gehört, und kommt zu dem Ergebnis, dass Ex-post-Triage rechtswidrig sei.
In einem Forschungsprojekt der Abteilungen für Strafrecht und Öffentliches Recht haben wir zusammen mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Verfassungsrecht, Medizinrecht, Strafrecht, Rechtsphilosophie und Praktische Ethik das heterogene Meinungsfeld aufgearbeitet. Unser Anliegen ist, durch eine systematische Erfassung der Fragen, Positionen und Argumente die rechtspolitischen Diskussionen besser zu strukturieren. Es existiert keine gesetzliche Regelung für Triage. In der Coronakrise wurde gefordert, ein Triage-Gesetz zu verabschieden, weil nach deutschem Verfassungsrecht das Parlament wesentliche Fragen entscheiden muss. Die Gegenposition, in unserem Projekt durch Steffen Augsberg vertreten, betont, dass der Staat keine Kriterien vorgeben dürfe, die menschliches Leben bewerten.
Losen oder Chancen abschätzen?
Stark umstritten ist, inwieweit die Erfolgsaussicht einer Behandlung, die aus ärztlicher Sicht selbstverständlich zu berücksichtigen ist, auch aus ethischer und rechtlicher Sicht ein akzeptables Auswahlkriterium ist. Die Bevorzugung der Patienten, für die eine Genesung von der Akuterkrankung wahrscheinlicher ist, benachteilige vorerkrankte und gebrechliche Menschen, argumentiert eine 2020 erhobene Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerdeführenden fordern, bei einem Verteilungskonflikt das Los entscheiden zu lassen. Eine zweite Position unterstützt dagegen die klinisch-ethischen Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften, die das Kriterium der Erfolgsaussicht in den Vordergrund stellen. Dafür spricht, dass man behandelnden Ärztinnen und Ärzten, die in einer Pandemie besonders hohen persönlichen Risiken und Belastungen ausgesetzt sind, nicht zumuten kann, ausblenden zu müssen, ob ihr Einsatz Erfolg verspricht oder nicht.
Eine andere, in den klinisch-ethischen Empfehlungen nicht geregelte Frage ist, was den Ausschlag geben soll, wenn die Erfolgsaussichten konkurrierender Patienten ähnlich ausfallen. Dürfen jedenfalls dann weitere Auswahlkriterien, etwa Lebensalter, herangezogen werden? Elisa Hoven spricht sich (entgegen der vorherrschenden Auffassung in der Rechtswissenschaft) dafür aus, Alter als Auswahlkriterium zuzulassen. Grundlage ist eine für unser Projekt organisierte Bevölkerungsumfrage, die zeigt, dass 77 Prozent aller Befragten ein Beatmungsgerät bei gleicher Erfolgsaussicht einem Kind statt einem 80-Jährigen geben würden und dass nur eine kleine Minderheit eine Auswahl durch Los befürwortet.
Pflichterfüllung oder Tötungsdelikt?
Mein eigener Beitrag konzentriert sich auf die strafrechtliche Bewertung eines Behandlungsabbruchs zugunsten von neu eintreffenden Erkrankten, die mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben werden, falls sie die knappe Ressource erhalten. Eine solche Ex-post-Triage wird von vielen Juristen als Straftat (Totschlag) eingeordnet. Ich vertrete dagegen die These, dass eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung unangemessen wäre.
Für Ärzte besteht eine Pflichtenkollision (sie müssen mehrere lebensgefährlich Erkrankte behandeln). Diese Pflichtenkollision ist im Strafrecht ein Rechtfertigungsgrund, der auch dann einschlägig ist, wenn Behandelnde die Erfolgsaussichten neu evaluieren und Ressourcen neu zuteilen.
Die erwähnte Bevölkerungsumfrage zeigt zu diesem Punkt heterogenere moralische Intuitionen als beim Alter als Auswahlkriterium: 41 Prozent sprachen sich für Ex-post-Triage aus, wenn Patienten mit besserer Erfolgsaussicht das Beatmungsgerät bekommen. 32 Prozent würden jedoch das Gerät dem zuerst Behandelten lassen, und 27 Prozent waren für einen Losentscheid. Aber die Frage nach dem gerechtesten Auswahlkriterium ist nicht identisch mit der Frage, ob diejenigen, die Ex-post-Triage anwenden, von einem Strafgericht zu Freiheitsstrafen verurteilt werden sollten. Große Zurückhaltung beim Einsatz des Strafrechts ist angebracht, weil es ein zu scharfes Instrument ist, um Verteilungsgerechtigkeit in existenziellen Notlagen durchzusetzen.