Knochen, gebaut wie Spannbeton
Die Einlagerung von Mineralen in Kollagen setzt die Verbundmaterialien unter Spannung und macht sie besonders hart und fest
Was Ingenieure erst vor etwa 100 Jahren erfunden haben, nutzt die Natur schon so lange es Wirbeltiere gibt. Denn so wie unter Zug stehende Stahldrähte die Rissfestigkeit von Spannbeton erhöhen, werden auch Knochen besonders hart und fest, weil ihre Kollagenfasern durch eingelagerte mineralische Nanopartikel vorgespannt werden und sie diese Spannung auf die Partikel übertragen. Ein Team des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung hat nun beobachtet, dass nicht nur Hydroxyapatit, der den mineralischen Bestandteil von Knochen bildet, eine Vorspannung erzeugt, sondern auch andere Minerale mit anderen Kristallstrukturen. Außerdem haben die Forschenden erstmals gewissermaßen live verfolgt, wie sich die Spannung im Kollagen und in den Mineralpartikeln aufbaut, wenn sich diese in den Proteinfasern einlagern. Die Erkenntnisse könnten sich unter anderem nutzen lassen, um Hybridmaterialien auf der Basis von Kollagen etwa für medizinische Anwendungen zu entwickeln.
Am Anfang stand eine lästige Schwierigkeit bei einem Experiment: Hang Ping, Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, wollte untersuchen, ob sich Hydroxyapatit und andere Minerale im Labor in Kollagen einlagern. Zu dem Zweck fixierte er Stücke von Sehnen, die zum großen Teil aus Kollagen bestehen, mit zwei Klebestreifen auf Glasplättchen. Doch während die Minerale aus einer Lösung in die Proteinbündel wanderten, zog sich die Sehne unter dem Klebeband hervor – bei jedem Versuch. Das war aber nicht nur hinderlich für das Experiment, sondern auch rätselhaft. Eine spannende Forschungsfrage, da war sich Hang Ping mit Wolfgang Wagermaier, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, und Peter Fratzl, Direktor an dem Potsdamer Institut, schnell einig.
Eine Zugspannung, 100 Mal stärker als Muskelkraft
Als die Forschenden das Problem daraufhin systematisch angingen, stellten sie fest, dass die Sehne und auch die eingebetteten Mineralpartikel tatsächlich unter Spannung standen, nachdem sich Mineralpartikel in die Bündel der Kollagenfasern eingelagert hatten. Und der Zug war immens: Mit 100 Kilogramm pro Quadratzentimeter war seine Kraft rund 100 Mal größer als die Kraft von Muskeln. Den Effekt nutzen Ingenieure im Spannbeton etwa für Brücken aus und offenbar trägt er auch dazu bei, Knochen ihre besondere Härte und Festigkeit zu geben. Jetzt hat das Team ihn noch umfassender untersucht. Dabei stellten Hang Ping und seine Kollegen fest, dass Kollagen auch unter Zugspannung gerät, wenn sich in seinen Fasern Nanokristalle anderer Minerale aufbauen, und dass diese dann auch vorgespannt werden. „Das ist überraschend, weil der Effekt auch bei Mineralen mit anderen Kristallstrukturen als der von Hydroxyapatit auftrat“, sagt Wolfgang Wagermaier. „Es wäre naheliegend gewesen, dass das nur bei der besonderen Konstellation von Kollagen und Hydroxyapatit funktioniert. Aber offenbar handelt es sich um ein universelles Prinzip.“
In ihrer aktuellen Arbeit stellten die Forschenden aber nicht nur die Universalität des Effekts fest, sondern verfolgten auch live, wie sich die Spannung allmählich aufbaute, während die Nanokristalle in den Kollagenfasern wuchsen. „Solche in-operando-Untersuchungen sind experimentell ziemlich anspruchsvoll“, sagt Wolfgang Wagermaier. Das Team verwendete daher einen speziellen Versuchsaufbau und beobachtete den Prozess an der besonders leistungsstarken Röntgenquelle des Synchrotron Bessy II in Berlin-Adlershof. Und nachdem das Zusammenspiel von Kollagen und Mineralen die Vorspannung erzeugt hatte, erhitzten die Forschenden das Verbundmaterial, um es zu entspannen. Damit erbrachte das Team den Beweis, dass die Vorspannung tatsächlich durch die Mineralisation entsteht.
Ein Bauplan für neue Materialien und ein besseres Verständnis von Knochenkrankheiten
„Dieser universelle Mechanismus der Mineralisation von organischen Fasergeweben könnte auf technische Hybridmaterialien übertragen werden, um dort beispielsweise eine hohe Bruchfestigkeit zu erreichen,“ sagt Peter Fratzl. So könnten sich nach dem Bauplan von Knochen gezielt Verbundmaterialien aus Kollagen und mineralischen Nanopartikeln etwa für Implantate entwickeln lassen. Möglicherweise könnte eine Mineralisation aber auch synthetische Polymere festigen, wenn diese ähnlich strukturiert sind wie Kollagen. Die Erkenntnisse des Potsdamer Teams sind aber nicht nur für das Design neuer Materialien relevant: „Auch aus medizinischer beziehungsweise biologischer Sicht ist es interessant zu verstehen, was beim Prozess der Mineralisation in Knochen passiert,“ sagt Wolfgang Wagermaier. „Viele Knochenkrankheiten gehen mit Veränderungen des Mineralgehalts in Knochen und dadurch veränderten Eigenschaften einher.“ Besser zu verstehen, wie die Mineralisation die Eigenschaften von Knochen beeinflusst, könnte daher auch neue Ansatzpunkte für Therapien von Knochenkrankheiten wie Osteoporose liefern. Dann lassen sich brüchige Knochen eines Tages vielleicht genauso sanieren wie altersschwache Brücken.
PH