Alles ist topologisch
Rund 90 Prozent aller Materialien können an Oberflächen andere elektronische Zustände aufweisen als in ihrem Inneren
Topologische elektronische Zustände sind entgegen bisheriger Annahmen in fast jedem bekannten Material vorhanden, wenn man zulässt, dass die Zahl der Elektronen im Material leicht variiert wird. Dieser Satz fasst die allgegenwärtige Bandtopologie sehr gut zusammen. Ein internationales Team, zu dem Forschende des Max-Planck-Inistituts für Chemische Physik fester Stoffe gehören, hat aufgezeigt, dass die Ergebnisse der Überprüfung früherer experimenteller Daten auf übersehene topologische Merkmale nahelegen, dass das Gebiet der Bandtheorie neu strukturiert werden sollte: Topologie gleichberechtigt neben Chemie und Geometrie.
Seit einem Jahrhundert wird Studenten der Chemie, Materialwissenschaften und Physik beigebracht, Festkörperwerkstoffe so zu modellieren (das heißt durch quantenmechanische Rechnungen die Eigenschaften von Festköpern vorherzusagen), indem man ihre chemische Zusammensetzung, die Anzahl und den Ort ihrer Elektronen und schließlich die Rolle der komplizierteren Wechselwirkungen berücksichtigt. Ein internationales Team von Wissenschaftlern des Donostia International Physics Center, der Princeton University, der Universität des Baskenlandes, des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe, der Ecole Normale Supérieure, des CNRS und des MIT hat jedoch vor kurzem herausgefunden, dass ein zusätzlicher Bestandteil – der mathematische Begriff der elektronischen Bandtopologie – ebenso berücksichtigt werden muss wie die Materialchemie, die Geometrie und die Wechselwirkungen.
Die erstmals in den 1980er-Jahren von Michael Berry, Joshua Zak und Shivaramakrishnan Pancharatnam kodifizierte Bandtopologie ist eine physikalische Eigenschaft, die elektronische Zustände in Materialien mit der gleichen Symmetrie unterscheidet. Topologische Materiephasen in 3D-Materialien wurden erstmals vor 15 Jahren von Forschern, zu denen auch Andrei Bernevig zählte, vorhergesagt. Ein Jahr später konnte das Team um Molenkamp die Vorhersage realisieren. Topologische Materialien weisen an ihren freiliegenden Oberflächen und Kanten ungewöhnlich robuste Zustände auf und wurden als Schauplatz für die Beobachtung und Manipulation exotischer Effekte vorgeschlagen, darunter die Umwandlung von elektrischem Strom und Elektronenspin, die Simulation exotischer Theorien aus der Hochenergiephysik und sogar, unter den richtigen Bedingungen, die Speicherung und Manipulation von Quanteninformationen. Obwohl eine Handvoll topologischer Materialien durch chemische Intuition aufgedeckt wurde, galten topologische elektronische Zustände in Festkörpern im Allgemeinen als selten und esoterisch.
Zwei Prozent der Materialien sind supertopologisch
Mit Hilfe von Hochdurchsatz-Rechenmodellen entdeckte ein internationales Team nun jedoch, dass mehr als die Hälfte der bekannten 3D-Materialien in der Natur topologisch sind. Wie die Forschenden im Fachmagazin Science schreiben, führten sie vollständige Hochdurchsatzberechnungen nach ersten Grundsätzen durch und suchte nach topologischen Zuständen in den elektronischen Strukturen aller 96196 in der Inorganic Crystal Structural Database erfassten Kristalle, einem etablierten internationalen Repository für die Erfassung experimentell untersuchter Materialien. Wie Nicolas Regnault von der Princeton University und der Ecole Normale Supérieure Paris, CNRS, betonte, „war dies eine gewaltige Aufgabe, die mehr als 25 Millionen Stunden Rechenzeit erforderte". Durch eine kombinierte chemische und topologische Analyse gruppierte das Team die elektronischen Strukturen in etwa 38000 einzigartige Materialien. Die Daten des Teams wurden im Rahmen einer umfassenden Überarbeitung der öffentlich zugänglichen Topological Materials Database frei zugänglich gemacht und stellen einen Höhepunkt der Bemühungen des Teams dar, das in den vergangenen sechs Jahren eine moderne Positions-Raum-Theorie der Bandtopologie entwickelt hat, die als Topologische Quantenchemie bekannt ist.
Das Team entdeckte auch überraschend, dass fast alle Materialien – fast 90 Prozent – topologische elektronische Zustände aufweisen, die von ihrer eigentlichen Elektronenzahl, dem so genannten Fermi-Niveau, abweichen. Obwohl diese Zustände in vielen experimentellen Sonden schlummern, sind sie mit Hilfe von Techniken wie chemischer Dotierung, elektrostatischem Gating, hydrostatischem Druck und Photoanregungsspektroskopie dennoch leicht zugänglich.
Am überraschendsten war vielleicht, dass nur nur etwa zehn Prozent der Materialien keine topologischen Zustände enthielten (und damit die vorher als exotisch geltenden Phänomene aufweisen), dass aber auch der extreme, umgekehrte Fall vorlag. „Wenn wir unsere Daten betrachten, haben wir erstaunlicherweise Materialien mit Topologie überall gesehen", sagte Maia Vergniory vom Donostia International Physics Center (DIPC) und dem Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe. Denn das Team fand (zusätzlich) heraus, dass zwei Prozent der bekannten Materialien supertopologisch sind, das heißt, dass jedes elektronische Band oberhalb der fest gebundenen Kernelektronen über das gesamte Energiespektrum topologisch ist. Zu den Materialien mit übersehener Supertopologie gehörte Wismut, eines der historisch am besten untersuchten Festkörpermaterialien.
Eine Datenbank liefert Kandidaten für topologische Materialien
Die Allgegenwärtigkeit der in numerischen Simulationen beobachteten topologischen Merkmale führte zu einer naheliegenden Frage: Wenn man den Ergebnissen Glauben schenken wollte, hätten experimentelle Signaturen topologischer Zustände bereits in früheren Untersuchungen vieler Materialien beobachtet werden müssen. Bei der Durchsicht von Daten aus früheren Photoemissionsexperimenten stellte das Team fest, dass dies tatsächlich der Fall ist. Bei experimentellen Untersuchungen von Bi2Mg3, die vor vier Jahren durchgeführt wurden, beobachteten die Autoren zum Beispiel unerklärliche Oberflächenresonanzen, die in der aktuellen Studie als übersehene topologische Oberflächenzustände abseits des Fermi-Niveaus erkannt wurden. „Die Beweise waren schon immer da", bemerkte Benjamin Wieder, ein Postdoktorand am MIT. „Jetzt haben wir einen konkreten Schlüssel zur Entschlüsselung aller Oberflächenmerkmale in spektroskopischen Materialexperimenten." „Unsere Datenbank ist ein so mächtiges und praktisches Werkzeug", ergänzt Claudia Felser vom Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe. „Wenn ich mich für eine topologische Eigenschaft interessiere, zeigt mir die Datenbank sofort die besten Kandidaten an. Dann muss ich die Proben nur noch in meinem Labor züchten - kein Rätselraten mehr."
„Die Überprüfung früherer Experimente unter neuen Gesichtspunkten ist ein erstaunlicher erster Schritt", sagt Andrei Bernevig von der Princeton University und Ikerbasque-Gastprofessor am Donostia International Physics Center (DIPC). „Aber wir können in eine noch aufregendere Zukunft blicken, in der Materialien mit fortgeschrittener Funktionalität durch eine Verbindung von menschlicher Intuition und künstlicher Intelligenz entwickelt werden, die auf der Grundlage der Datenbank für topologische Materialien und der topologischen Quantenchemie aufgebaut ist."