Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Ethisch umstrittene Technologien im öffentlichen Gesundheitssystem − Gratwanderung zwischen moralischen Geboten und staatlicher Neutralität 

Autoren
Domenici, Irene
Abteilungen

Max Planck Institute for Social Law and Social Policy, München

Zusammenfassung
Nach welchen Kriterien dürfen ethisch umstrittene Technologien in das öffentliche Gesundheitswesen aufgenommen werden? Zwar wird die Meinung vertreten, dass diese Entscheidung moralischen Vorgaben entsprechen sollte, doch hat die Berücksichtigung ethischer Bedenken aufgrund des staatlichen Neutralitätsgebots ein Legitimitätsproblem zur Folge. Diese rechtsvergleichende Arbeit untersucht anhand von zwei Fallbeispielen – Präimplantationsdiagnostik und nicht-invasiven pränatalen Test – das Verhältnis zwischen Ethik und Recht sowie seine Auswirkungen auf das öffentliche Gesundheitswesen.
 
 

Die Aufnahme neuer Gesundheitstechnologien in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen ist das Ergebnis eines von Unsicherheit geprägten Bewertungsprozesses. Dies gilt umso mehr für ethisch umstrittene Gesundheitstechnologien, denn bevor Behörden Erstattungsentscheidungen treffen, müssen sie sich über die moralischen Implikationen im Klaren sein. Die Entscheidung, ethisch umstrittene medizinische Verfahren in das öffentliche Gesundheitssystem aufzunehmen, hat eine starke symbolische Bedeutung und damit Einfluss auf deren Akzeptanz in der Gesellschaft. Die Gewährung oder Verweigerung von staatlich finanzierten Gesundheitsleistungen könnte bedeuten, dass der Gesetzgeber eine positive oder negative ethische Haltung gegenüber dem betreffenden medizinischen Verfahren einnimmt.

Es lässt sich argumentieren, dass bei Entscheidungen über die Kostenübernahme durch öffentliche Gesundheitssysteme die Einhaltung ethischer Standards gesichert sein muss. Dennoch ist die Berücksichtigung ethischer Belange im Entscheidungsprozess problematisch. Der weitreichende Ermessensspielraum, der staatlichen Institutionen bei der Zusammenstellung der Leistungskataloge eingeräumt wird, birgt die Gefahr, dass Entscheidungen auf der Grundlage bestimmter ethischer, religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen getroffen werden. Rechtsverbindliche Entscheidungen, die auf außerrechtlichen Erwägungen beruhen, werfen jedoch ein Legitimationsproblem auf: Moderne, demokratisch verfasste Staaten sind durch ethischen Pluralismus gekennzeichnet: Ihre Mitglieder haben unterschiedliche ethische Überzeugungen und Vorstellungen vom moralisch Guten. Ethische Neutralität soll sicherstellen, dass die Rechtfertigung staatlichen Handelns auf Gründen beruht, die von der Gesellschaft als Ganzes akzeptiert werden können.

Vergleichende Analyse zweier Fallstudien

Vor diesem Hintergrund befasste sich das Forschungsprojekt mit der Frage, inwieweit ethische Bedenken bei Erstattungsentscheidungen der öffentlichen Gesundheitssysteme legitimerweise berücksichtigt werden können und welche Rolle das staatliche Neutralitätsgebot hierbei spielt. In einem rechtsvergleichender Ansatz und anhand von zwei Fallstudien wurde analysiert, wie die Gesundheitssysteme in Deutschland, Italien und England mit ethisch umstrittenen Technologien umgehen. Die Auswahl der Länder erfolgte unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Modelle von Gesundheitssystemen, der verschiedenen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sowie der Tendenzen zu einer eher „restriktiven“ oder „liberalen“ Gesetzgebung im Bereich der reproduktiven Gesundheit. Die Fallbeispiele – Präimplantationsdiagnostik und nicht-invasive pränatale Tests – beinhalten eine Vielzahl moralischer Implikationen und können daher als bezeichnend für ethische Fragen im Gesundheitswesen angesehen werden.

Neutralität und prozedurale Legitimität

Die vergleichende verfassungsrechtliche Analyse ergab, dass die Rechtsordnungen aller drei Länder den Wert der Trennung von Ethik und Recht anerkennen und es für den Staat unerlässlich ist, Entscheidungen auf der Basis einer neutralen Argumentation zu treffen. Zwar findet sich in keiner der Jurisdiktionen ein ausdrückliches Neutralitätsgebot im Verfassungstext, aber alle drei Länder verfügen über funktional gleichwertige Grundsätze, die den Zweck des Schutzes des ethischen Pluralismus erfüllen. Während das englische System dabei einem prozeduralen Ansatz folgt, ist das italienische Verfassungsrecht an Laizität orientiert. Dem deutschen Grundgesetz lässt sich ein Neutralitätsgebot entnehmen.

Die Fallstudien offenbarten auch, dass ethische und religiöse Faktoren Einfluss auf die Regulierung der ausgewählten Technologien hatten. In allen drei Ländern sieht die Gesetzgebung strafrechtliche Sanktionen für die Verwendung menschlicher Embryonen im Rahmen der Unfruchtbarkeitsbehandlung vor, die über das hinausgehen, was nach dem ethischen Ansatz, der der Gesetzgebung zugrunde liegt, als vertretbar angesehen wird.

Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Interaktion verschiedener Institutionen und Akteure von größter Bedeutung für die Legitimität der Entscheidungsprozesse ist. Mit Blick auf die Rolle, die Gesetzgeber, Gerichte, Entscheidungsträger im Gesundheitswesen und Ethikräte spielten, und ihr Zusammenwirken mit der Gesellschaft lässt sich ein Unterschied zwischen einem substanziellen (werteorientierten) und einem prozeduralen (verfahrensorientierten) Ansatz erkennen. Kennzeichnend für das prozedurale Modell ist, dass Experten in die Gestaltung und Umsetzung der Regulierung einbezogen und außerparlamentarische Foren für die gesellschaftliche Debatte bereitgestellt werden. Letztlich zielt der verfahrenstechnische Ansatz darauf ab, die Legitimität der Entscheidung auf die Einhaltung von Verfahrensgarantien, die Einbeziehung von Sachverständigen und einen gesellschaftlichen Konsens zu stützen und nicht ausschließlich auf inhaltliche Vorgaben. Dieser Ansatz wurde in England gewählt, während in Italien und Deutschland die Legitimität der Regulierung im Wesentlichen auf der Vereinbarkeit mit verfassungsrechtlichen Vorschriften und Werten beruhte.

Die Ergebnisse des Projekts geben daher auch Aufschluss darüber, wie sich die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren im Rechtssystem optimal gestalten lässt, um in pluralistischen Gesellschaften legitime Entscheidungen über umstrittene Gesundheitstechnologien zu erreichen. Das prozedurale Modell trägt dazu bei, einen Kompromiss zu finden, den verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Positionen mittragen können. Die Vernachlässigung von Verfahrenselementen in den Beziehungen zwischen den Beteiligten wirkt sich hingegen negativ auf die Legitimität und Akzeptanz der Regulierung aus, wie die deutsche und die italienische Gesetzgebung über die Verwendung menschlicher Embryonen für Fruchtbarkeitsbehandlungen zeigen.

Domenici, I.
Between Ethical Oversight and State Neutrality: Introducing Controversial Technologies into the Public Healthcare Systems of Germany, Italy and England
Baden-Baden: Nomos (2023), DOI: 10.5771/9783748918912

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