Kannibalistische Fadenwürmer besitzen doppeltes Erbgut

Plastizität während der Entwicklung spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Allodiplogaster sudhausi zum Räuber

Forschende des Max-Planck-Instituts für Biologie Tübingen haben Belege dafür gefunden, wie Umweltfaktoren und genetische Anpassung zur Entwicklung neuer Eigenschaften und Verhaltensweisen bei Fadenwürmern führen können. Die Entdeckungen werfen die Frage auf, wie sich diese genetischen Veränderungen auf die soziale Dynamik, die Interaktionen innerhalb der Arten und den Wettbewerb um Ressourcen zwischen Nematodenpopulationen auswirken.
 

Eines der erstaunlichsten Rätsel in der Evolutionsbiologie ist die Entwicklung komplexer Eigenschaften, die oft zu morphologischer Vielfalt führt. Ralf Sommer, Direktor der Abteilung für Integrative Evolutionsbiologie, hat sein Lebenswerk der Rolle der Umwelt bei der Entwicklung von Plastizität und Epigenetik gewidmet. Diese Forschungen liefern immer wieder Belege für die tiefgreifende Wirkung und Bedeutung der Plastizität auf morphologische, physiologische oder verhaltensbezogene Veränderungen in Organismen selbst über Generationen hinweg.

Nematoden sind Rundwürmer, die im Boden vorkommen. Sie ernähren sich normalerweise von Bakterien und sind mikroskopisch klein. Sommers Team untersuchte den Fadenwurm Allodiplogaster sudhausi. Eine neue Studie enthüllt eine überraschende Wendung: Diese Lebewesen können ein riesiges Maul entwickeln, sich kannibalisch verhalten und doppelt so groß werden wie die meisten Bodennematoden.

Stress und schlechte Ernährungsbedingungen führen zu Kannibalismus

Frühere Forschungen zu A. sudhausi zeigten, dass es zwei verschiedene Ernährungsformen gibt, die sich durch die Form des Mundes und die Komplexität der Zähne unterscheiden. Sara Wighard, Hauptautorin und ehemalige Doktorandin, entdeckte jedoch eine überraschende dritte Form. Wenn der Wurm mit verschiedenen Pilzen, darunter Penicillium camemberti, gefüttert wurde, entwickelte er ein riesiges Maul, das später als „Terastostomatous (Te) Morph“ bezeichnet wurde. Diese Te-Würmer wurden auch unter Stress-Bedingungen wie Hunger und hoher Wurmdichte gefunden.

Auffallend ist, dass diese neu entdeckte Art ein noch nie dagewesenes kannibalistisches Verhalten an den Tag legt: Sie fressen ihre eigenen Verwandten, obwohl sie genetisch identisch sind. Diese Würmer sind zwittrig und benötigen keine Männchen, um Nachwuchs zu zeugen. Sommer erklärt, was der Grund dieses Kannibalismus sein könnte: „Die Pilze liefern nicht genügend Nährstoffe, und zusammen mit dem Ressourcendruck, der durch viele andere umgebende Würmer entsteht, werden sie als Reaktion auf den Stress aggressiver." Außerhalb des Labors würde das kannibalistische Verhalten der Art eine größere Chance geben, unter Stress-Bedingungen langfristig zu überleben.

Frühere Erkenntnisse von Sara Wighard zeigten, dass diese Art eine Verdopplung des gesamten Genoms durchlaufen hat. Im Gegensatz zu ihren nur einen Millimeter langen Verwandten wuchs A. sudhausi auf zwei Millimeter an und wurde damit für das bloße Auge sichtbar.   

Nachverfolgung der neuartigen Gestaltbildung

Da die neue Eigenschaft einer dritten Mundform keine Überschneidungen mit den beiden anderen bekannten Formen aufweist, machten sich die Forschenden daran den Mechanismus, der die neue Form reguliert, zu identifizieren. Mithilfe der Genschere Crispr fanden sie konservierte Gene für Entwicklungsschalter, die die Entstehung dieser dritten Mundform steuern, was auf die Kooption existierender genetischer Mechanismen hinweist. Gen-Dosis-Studien offenbarten dann die unterschiedliche Rolle dieser Entwicklungsschalter bei der Festlegung der verschiedenen Mundformen. Die Korrelation deutet darauf hin, dass groß angelegte genomische Veränderungen wie eine Verdopplung des Genoms morphologische Neuheiten und die phänotypische Vielfalt bei Nematoden bestimmen können. Da kein anderer Stamm ähnliche Veränderungen aufweist, kann das Forschungsteam diese phylogenetische Auflösung nur bedingt nachvollziehen, bis weitere Untersuchungen durchgeführt werden können.

Insgesamt wirft die Studie ein Licht auf das komplexe Zusammenspiel zwischen Umweltfaktoren, in diesem Fall Ernährung und eine zu hohe Wurmdichte, und genetischen Veränderungen bei der Gestaltung morphologischer Vielfalt. Die Entdeckung einer neuen Mundform in Zusammenhang mit kannibalistischem Verhalten und das Auftreten von eine Verdopplungen des Genoms untermauern die Bedeutung von Plastizität während der Entwicklung, da sie den evolutionären Weg der Art beinflusst. Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass sich Nematoden durch die Entwicklung neuer Merkmale wie Kannibalismus schnell an raue Umweltbedingungen anpassen können. Die Fähigkeit, sich je nach Umwelteinflüssen zu verändern, könnte für ihr langfristiges Überleben entscheidend sein.

Für mehr informationen: https://sommerlab.org/

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