Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Geometrie des expandierenden Universums
Geometry of the expanding Universe
Quantengravitation und vereinheitlichte Theorien (Prof. Dr. Hermann Nicolai)
MPI für Gravitationsphysik, Golm
Die Zukunft vorherzusagen ist Kernaufgabe jeder physikalischen Theorie. Um dies zu erreichen, müssen Gleichungen formuliert werden, deren mathematische Struktur es ermöglicht, aus gegebenen Anfangsbedingungen den zukünftigen Zustand eines Systems zu berechnen. Auf hinreichend abstraktem Niveau trifft dies auch auf Quantentheorien zu, in denen aufgrund fundamentaler Beschränkungen lediglich Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter Messergebnisse berechnet werden können. Bemerkenswerterweise beschränkt die elementare Forderung, dass eine Theorie zu eindeutigen Vorhersagen führen soll, die mathematische Struktur der Raumzeit nicht etwa auf die gegenwärtig allen fundamentalen physikalischen Theorien zugrunde gelegte Raumzeitgeometrie, sondern auf eine wesentlich größere Klasse von Geometrien. Die Untersuchung dieser gesamten Klasse von Raumzeitgeometrien, die einerseits eine konsistente Bewegung von Materie ermöglichen und andererseits selbst durch eine eindeutige Gravitationsdynamik beschrieben werden, ist der Forschungsschwerpunkt unserer Arbeitsgruppe.
Vor wenigen Jahren noch wären die in diesem Zusammenhang zu machenden theoretischen Beobachtungen lediglich von mathematisch-strukturellem Interesse gewesen. Man hätte wohl mit Fug und Recht eine Verallgemeinerung des geometrischen Rahmens, wie er der Allgemeinen Relativitätstheorie und Quantentheorien der Materie auf gekrümmter Raumzeit zugrunde liegt, als nicht zur Erklärung der beobachtbaren Phänomene notwendig erachten müssen. Diese Einschätzung darf heute allerdings sowohl aus theoretischer wie aus experimenteller Sicht in Zweifel gezogen werden.
Auf theoretischer Seite haben die massiven Bemühungen, eine Theorie der Quantengravitation zu formulieren, zu überraschenden Einsichten geführt. Einmal formuliert, löst eine Quantentheorie der Raumzeitstruktur die klassische Theorie sowohl quantitativ als auch konzeptionell ab. Besonderes Augenmerk wird dann aber gerade darauf liegen, unter welchen Umständen eine klassische Beschreibung der Raumzeit aus der Quantentheorie extrahiert werden kann, und welche Form sie dann annimmt. Es ist wohl fair zu sagen, dass bisher noch keine vollständige Theorie der Quantengravitation vorgelegt wurde. Trotzdem ist allerdings schon heute klar, dass eine rein metrische Geometrie (also eine Geometrie, die gerade ausreichend Information enthält um Längen und Winkel zu messen) selbst im klassischen Grenzfall nicht notwendigerweise die gesamte Raumzeitstruktur erfassen wird. Um diese Tatsache in dieser schwachen Formulierung einzusehen, genügt es natürlich, eine ernsthafte Kandidatin für eine Quantengravitationstheorie zu betrachten, die unter bestimmten Voraussetzungen eine solche verallgemeinerte Raumzeitgeometrie vorhersagt. In der Tat ist dies der Fall in der Stringtheorie, wo ein Zweiformfeld und ein Skalarfeld neben die Metrik treten, um die emergierende effektive klassische Geometrie zu beschreiben. Solche verallgemeinerten Geometrien, wie sie in der Stringtheorie auftreten, haben folglich intensive Aufmerksamkeit erfahren. Trägt man aber der Möglichkeit Rechnung, dass Stringtheorie sich möglicherweise trotz all ihrer vielversprechenden Eigenschaften dann doch nicht als Quantentheorie der Gravitation behauptet, ist man zurückgeworfen auf das Studium aller konsistenten klassischen Geometrien, wie oben charakterisiert. Dies ist also die theoretische Motivation unserer Untersuchungen unter der Annahme, dass die physikalische Raumzeit auf fundamentaler Ebene tatsächlich von einer Quantentheorie beherrscht wird.
Aber Physik muss sich, eine solide theoretische Begriffsbildung und Sprache vorausgesetzt, mit Phänomenen beschäftigen, die der Beobachtung prinzipiell oder tatsächlich zugänglich sind. Darin unterscheidet sie sich von der Geisteswissenschaft Mathematik. Tatsächlich haben die durch Weltraumteleskopie um Größenordnungen an Präzision gewonnenen astrophysikalischen Beobachtungen eine erstaunliche Folgerung zu Tage gefördert. Interpretiert im Rahmenwerk der allgemeinen Relativitätstheorie suggerieren die in den letzten 15 Jahren gesammelten Daten, dass das Universum nicht nur expandiert (wie theoretisch vorausgesagt), sondern diese Expansion immer schneller fortschreitet. Wie dramatisch sich diese beschleunigte Expansion auf unser Weltverständnis auswirkt, wird direkt klar, wenn man sie vor dem Hintergrund des Standardmodells der Elementarteilchenphysik betrachtet, der in irdischen Beschleunigerexperimenten erfolgreichsten Theorie der Physik. Denn um die beobachtete beschleunigte Expansion des Universums zu erklären, muss man annehmen, dass sagenhafte 96 Prozent aller Energie und Materie im Universum völlig unbekannter „dunkler“ Natur sind, mit exotischen Eigenschaften wie negativem Druck, und mit Standardmodellmaterie nicht messbar wechselwirkend. Diese Interpretation ist eine logische Möglichkeit. Sie stellt ein Extremum dar insofern, als dass sie auf der Annahme basiert, dass die allgemeine Relativitätstheorie völlig korrekt ist und die Teilchenphysik nur zu vier Prozent, um es bewusst plakativ zu formulieren. Eine etwas nüchternere und fairere Einschätzung der Beobachtungsdaten wäre wohl die Einsicht, dass die beschleunigte Expansion des Universums anzeigt, dass wir fundamentale Aspekte der Gravitation, der Teilchenphysik, oder wahrscheinlich beider Gebiete nicht verstehen. Tatsächlich spricht die enge formale Verflechtung unserer Theorien der Materie und Raumzeitgeometrie für die letzte der drei Varianten: alles, was wir über die Struktur der Raumzeit folgern, wissen wir aus der Beobachtung von Materie, und alle realistischen Materiemodelle erfordern derzeit für ihre mathematische Formulierung eine zugrunde liegende Raumzeit. Wie genau eine Raumzeitgeometrie aussehen muss, so dass die damit verknüpften Theorien der Gravitation und Elementarteilchentheorie eine beschleunigte Expansion des Universums ohne weitere ad-hoc-Annahmen erklären, und ob das überhaupt möglich ist, ist nicht offensichtlich. Wiederum sind wir also zurückgeworfen auf die Notwendigkeit, jenseits allzu enger Annahmen alle klassischen Raumzeitgeometrien zu untersuchen, die zumindest die zu Anfang genannte Bedingung erfüllen, einer prädiktiven Theorie zugrunde liegen zu können.
Bemerkenswerterweise kann man tatsächlich eine solche allgemeine Theorie klassischer Raumzeitstrukturen formulieren. Diese gehen einerseits weit über die metrischen Geometrien hinaus, die der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegen. Andererseits, und das ist wohl die Überraschung, schränkt das Kriterium der Prädiktivität die denkbaren Strukturen hinreichend ein. Tatsächlich kann man eine allgemeine Theorie klassischer Raumzeitgeometrien formulieren, allerdings nur aufgrund eines bemerkenswerten Wechselspiels der Theorie hyperbolischer Polynome mit konvexer Analysis einerseits und algebraischer Geometrie andererseits.
Konkret kommen diese Elemente zwingendermaßen wie folgt ins Spiel. Betrachtet man zunächst eine durch einen beliebigen Tensor definierte Geometrie, so weiß man von der Theorie der partiellen Differentialgleichungen, dass eine Feldtheorie auf einem solchen Hintergrund nur dann ein gut gestelltes Anfangswertproblem haben kann, wenn ein aus den Faktoren der höchsten Ableitungsterme in bestimmter Weise definiertes Polynom hyperbolisch ist. Im vertrauten Falle der Maxwellschen Feldgleichungen und einer metrischen Geometrie ist die Hyperbolizität des besagten Polynoms genau dann gegeben, wenn die Metrik Lorentzsche Signatur besitzt. Hyperbolizität ist also die Verallgemeinerung der Lorentzschen Signaturbedingung auf beliebige Geometrien. Tatsächlich lassen sich alle Konzepte betreffend die Kausalitätseigenschaften der Raumzeit und der Kopplung von Punktteilchen konzeptionell zwingend auf verallgemeinerte Geometrien erweitern. Allein die Hyperbolizität impliziert dann beispielsweise immer noch, dass die massiven Impulse einen konvexen Kegel bilden. Auf dieser wichtigen Eigenschaft fußt auch die Erkenntnis, dass es keine klassische Raumzeitgeometrie geben kann, in der Photonen instabil sind. Während sich also alle Konstruktionen der Lorentzschen Differentialgeometrie aufgrund der Hyperbolizität verallgemeinern, so erfordert dies doch den Einsatz wesentlich ausgefeilterer Mathematik als im metrischen Fall. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse werfen auch ein detaillierteres Licht auf die konzeptionelle Struktur der Raumzeitgeometrie im vertrauten Falle einer metrischen Geometrie. Insbesondere wird klar, dass vom höheren Standpunkt aus gesehen allzu direkte Verallgemeinerungsversuche der Raumzeitgeometrie zu komplexeren Strukturen scheitern müssen. Eine Schlüsseleinsicht ist, dass die Geometrie nur im Impulsraum zwingend eine polynomiale Struktur annehmen muss.
Aufbauend erhält man dann die dynamische Theorie der verallgemeinerten Raumzeit durch das Auffinden einer Darstellung der Deformationsalgebra von Hyperflächen, in enger Analogie dazu, wie es im metrischen Falle von der Schule um Wheeler gezeigt wurde. Die daraus folgende kanonische Gravitationstheorie besitzt per Konstruktion ein gut gestelltes Anfangswertproblem, ist also selbst wieder prädiktiv. Fordert man dann weiter, dass klassische Elektrodynamik in einer solchen Raumzeit möglich sein soll, so erhält man eine ausgezeichnete Dynamik einer so genannten flächenmetrischen Geometrie [1]. Dieses Ergebnis gibt damit den einzig konsistenten Ansatzpunkt für die Erklärung beobachtbarer Phänomene [2,3] im Rahmen einer klassischen Gravitationstheorie. Zur Vollendung dieses Programms werden derzeit die Konsequenzen dieser Einsichten für die möglichen Theorien der Materie auf solchen Raumzeiten untersucht. Sollte die resultierende Gesamttheorie von Raumzeit und Materie dann doch im Widerspruch zu Beobachtungen stehen, so wäre damit allerdings gezeigt, dass es keine klassische Erweiterung der Allgemeinen Relativitätstheorie geben kann, die prädiktiv ist.
Es ist Zeugnis für die Mächtigkeit des uns zur Verfügung stehenden modernen mathematischen Apparats, dass trotz nur sehr geringer gesicherter Information bezüglich einer aus der Quantengravitation oder der Beobachtung eines beschleunigt expandierenden Universums zu ziehender Schlüsse doch definitive und weitreichende Aussagen über die Struktur der denkbaren klassischen Raumzeiten zu treffen sind.