Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Aufbruch ins Jahrhundert des Patienten
Harding Center for Risk Literacy
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Bessere Bildung von Ärzten und Patienten ermöglicht eine bessere Versorgung
Das Gesundheitswesen des 20. Jahrhunderts war von enormen technologischen Fortschritten geprägt, nicht aber von einem entsprechenden allgemeinen Verständnis dieser Errungenschaften. Beispielsweise versteht die Mehrzahl der Ärzte Gesundheitsstatistiken nicht, das heißt, sie können weder Testergebnisse beurteilen noch Artikel in medizinischen Fachzeitschriften kritisch lesen [1, 2]. Bei fast zehn Millionen Frauen in den USA wurden unnötige sogenannte PAP-Abstriche zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs vorgenommen – unnötig deshalb, weil bei diesen Frauen die Gebärmutter bereits operativ entfernt wurde. Unnötige PAP-Abstriche schaden der Patientin nicht, aber das Gesundheitssystem vergeudet damit Millionen. Jedes Jahr werden eine Million US-amerikanische Kinder überflüssigen Untersuchungen mit Computertomographie (CT) unterzogen [1]. Diese CT-Untersuchungen bedeuten nicht nur Geldverschwendung, sondern richten auch Schaden an: Die ungefähr 70 Millionen CT-Scans, die pro Jahr in den USA durchgeführt werden, haben schätzungsweise 29.000 Krebserkrankungen zur Folge.
Ein Gesundheitssystem, das Steuergelder für unnötige oder sogar schädliche Tests und Behandlungen verschwendet und medizinische Forschung finanziert, die für Patienten nur begrenzt relevant ist, ist ineffizient. Steuererhöhungen oder Rationierung der Gesundheitsversorgung werden oft als die einzigen Alternativen zur Kostenexplosion angesehen. Es gibt jedoch eine dritte Option: Aufklärung ermöglicht bessere Gesundheitsversorgung für weniger Geld.
Das 21. Jahrhundert könnte das Jahrhundert des Patienten werden, wenn Regierungen und Institutionen einen anderen Kurs einschlagen. Sie müssten ehrliche und transparente Informationen liefern, um den Weg zu besser informierten Ärzten und Patienten und letztendlich auch einer besseren Gesundheitsversorgung zu ebnen.
Wie ehrlich und transparent wird „Otto Normalverbraucher“ informiert?
Otto Normalverbraucher möchte sich informieren, bevor er sich für oder gegen eine Früherkennung auf Prostatakrebs entscheidet. Da die Deutschen mehr Patientenbroschüren lesen als alle anderen Europäer [3], schlägt er den 114 Seiten starken Ratgeber der Deutschen Krebshilfe auf. Otto liest, dass PSA-Tests eine wichtige Methode zur Früherkennung sind [4; mit Unterstützung des Harding Centers wurde diese Broschüre inzwischen überarbeitet]. Außerdem liest er in der Zeitung einen Bericht über eine europäische Studie zur Prostatakrebs-Früherkennung. Sie zeigt, dass PSA-Tests die Zahl der an Prostatakrebs Sterbenden um 20 Prozent senken [5]. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie erklärte im Jahr 2009 unmissverständlich: „Die Studie zeigt eindeutig, dass das PSA-Screening Leben rettet“ [6]. Nur zur Sicherheit konsultiert Otto seinen Urologen, der den Test ebenfalls empfiehlt. Alles passt zusammen, und Otto macht den Test. Hat Otto Normalverbraucher eine informierte Entscheidung getroffen?
Nein. Aber er wird das vermutlich nie bemerken. Er wird nicht erfahren, dass die Angabe „20 Prozent“ zwar korrekt, aber irreführend war. Laut der Studie starben ungefähr 3,7 von 1.000 Männern, die nicht an der Früherkennung teilgenommen haben, an Prostatakrebs. Mit Früherkennung waren es 0,7 (also ungefähr 20 Prozent) weniger. Den Nutzen durch relative (20 Prozent) statt absolute (0,7 von 1.000) Angaben darzustellen, ist ein übliches Verfahren, die Öffentlichkeit irrezuführen, ohne die Unwahrheit zu sagen.
Außerdem ist die Chance gering, dass Ottos Urologe die wissenschaftlichen Fakten über das Für und Wider eines PSA-Tests kennt. In einer Zufallsstichprobe von zwanzig Berliner Urologen wussten dies nur zwei [7]. Selbst wenn Ärzte die Fakten kennen, empfehlen sie oft aus Angst vor Schadenersatzklagen den Test und praktizieren damit „defensive Medizin“. So glaubte nur ungefähr die Hälfte von 250 Schweizer Internisten, dass der Nutzen des PSA-Tests größer ist als der Schaden, aber drei Viertel empfahlen ihn ihren Patienten trotzdem [8]. Dies verdeutlicht, wie Patienten im aktuellen Gesundheitssystem Opfer einer Kette unausgewogener und intransparenter Informationen werden.
Drei Revolutionen des Gesundheitswesens
Die Professionalisierung der modernen Medizin begann im 19. Jahrhundert. In den meisten Industriestaaten besserte sich der allgemeine Gesundheitszustand, weil zunehmend sauberes Wasser, eine hygienische Umgebung und ausreichend gesunde Nahrung verfügbar waren. Dies war die erste Revolution des Gesundheitswesens.
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine Zeit revolutionärer wissenschaftlicher Fortschritte, wie der Erfindung der künstlichen Hüfte oder Heilmethoden für Leukämie im Kindesalter. Darüber hinaus wurde immens in die Verbesserung der Krankenversorgung, die medizinische Berufsausbildung und die Organisation des Gesundheitswesens investiert. Diese zweite Reform schuf ein mächtiges Versorgungsmanagement. Das 20. Jahrhundert wurde zum Zeitalter der Ärzte, der Kliniken und der Industrie. Gut unterrichtete Patienten auf Augenhöhe waren nicht das primäre Ziel, wie die Fehlinformation über Pro und Kontra von Krebsfrüherkennung zeigt, die in Europa vorherrscht [3]. Trotz großer Fortschritte hat uns das 20. Jahrhundert uninformierte Ärzte und Patienten hinterlassen sowie einen verschwenderischen Umgang mit Ressourcen. Die meisten Länder können sich ein solches System nicht mehr lange leisten. Jetzt brauchen wir eine dritte Revolution des Gesundheitswesens.
Das Jahrhundert des Patienten
Während die erste Gesundheitsrevolution sauberes Wasser brachte, sollte die dritte klare Informationen liefern. Sie könnte das 21. Jahrhundert in ein Jahrhundert des Patienten verwandeln – ein wirklich demokratisches Ideal. Staatsbürger haben das Recht, die grundlegenden Tatsachen zu kennen, und sie haben eine Verantwortung, Entscheidungen über ihre Gesundheit auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz zu treffen.
Eine kritische Masse informierter Patienten wird nicht alle Probleme lösen, aber die wichtigste Basis für eine bessere Versorgung sein. Diese Patienten können Versuche, unangemessene Hoffnungen und Ängste hervorzurufen, durchschauen. Das Jahrhundert des Patienten lenkt die Finanzierung von Forschung auf Gebiete, die relevant für Patienten sind statt für Patente. Es setzt vollständige und transparente Darstellungen in Zeitschriften, Broschüren und den Medien durch und schafft ein Rechtssystem, das Ärzte und Patienten gleichermaßen vor defensiver Medizin schützt. Und schließlich verpflichtet es medizinische Fakultäten, das Verstehen und transparente Kommunizieren von Gesundheitsstatistiken zu vermitteln.
So wären die Patienten nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Aus verängstigten, unwissenden Patienten, die ihrem Arzt blind vertrauen, würden allmählich Partner werden, die mit dem Arzt gemeinsam Entscheidungen treffen. Die Forderung nach besserer Gesundheitsversorgung wird meist mit Steuererhöhung oder Rationierung der Versorgung gleichgesetzt. Das Problem ist jedoch nicht ein Mangel an Geld. Das Jahrhundert des Patienten ist die dritte Alternative: bessere Ärzte, informierte Patienten und bessere Versorgung für weniger Geld. Aber letzten Endes geht es um mehr als Gesundheit und Geld: Eine aufgeklärte Bürgerschaft ist der Lebensnerv einer modernen Demokratie.