Lotto: Wer spielt, hat schon verloren?

Studie des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung untersucht Güter mit negativem Nutzen

5. Dezember 2007

Lotteriemärkte sind umsatzstarke Märkte. Da aber nur weniger als die Hälfte der Einnahmen als Gewinne verteilt werden, liegt der Nutzen eines Lotterieloses unter dessen Kaufpreis. Warum spielen dennoch Millionen Menschen Woche für Woche ein Spiel, das sie verlieren? Jens Beckert und Mark Lutter vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung gehen in einer Studie verschiedenen Erklärungsansätzen nach und fanden Hinweise darauf, dass Lotteriespielen als "Baugenehmigung für Luftschlösser" angesehen werden kann.

Derzeit erlebt Deutschland ein Lottofieber bislang ungekannten Ausmaßes. In etlichen Ziehungen hat sich ein Jackpot von über 43 Millionen Euro aufgebaut, der höchste Lotto-Jackpot, der jemals in der Bundesrepublik ausgespielt wurde. Die Schlangen in den Annahmestellen werden immer länger, an einigen Orten die Spielscheine knapp. Die Lotteriegesellschaften verzeichnen in diesen Tagen Umsatzsteigerungen, für die Medien wird die Lottoziehung zur Titelgeschichte.

Unter welchen Gesichtspunkten messen Akteure Gütern einen Wert bei und fragen diese nach? Diese Frage ist ein zentrales Forschungsfeld der Wirtschaftssoziologie. Die Nachfrage auf Lotteriemärkten ist dabei besonders interessant für die Untersuchung von Wertbildungsprozessen auf Märkten, da sie eine Paradoxie kennzeichnet: Einerseits zielt der Kauf eines Loses eindeutig auf die Erwartung eines monetären Gewinns, andererseits liegt die stochastische Gewinnerwartung bei unter der Hälfte des Kaufpreises. Die Teilnahme ist ökonomisch also irrational. Der Spieleinsatz übersteigt den zu erwartenden Gewinn. Wie kommt es auf diesen Märkten dennoch zu Nachfrage?

Glücksspiel ist ein Massenphänomen

Die Spieleinsätze der Deutschen schaffen einen gewaltigen Markt. Die gesamte, staatlich konzessionierte Glücksspielwirtschaft verzeichnet im Jahr 2005 Einsätze in Höhe von über 30 Milliarden Euro. Damit umfasst der Glücksspielmarkt nahezu das dreifache Volumen des deutschen Buchmarktes und fast den Umsatz des Bekleidungsmarktes. Die größten Umsatzanteile liegen zu je etwa einem Drittel bei Spielbanken und den Spielangeboten des deutschen Lotto-Toto-Blocks, zu denen auch das Zahlenlotto gehört, sowie bei Geldspielautomaten und Sportwetten.

Das klassische Lotto, also die Wette "6 aus 49", ist das populärste aller Glücksspiele. Nach den Ergebnissen einer im Rahmen des Forschungsprojektes in Auftrag gegebenen Bevölkerungsumfrage spielen etwa 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung innerhalb eines Jahres mindestens einmal Lotto. Etwa jeder fünfte Bundesdeutsche spielt regelmäßig mindestens einmal im Monat, der Großteil davon wöchentlich. Der monatliche Durchschnittseinsatz liegt bei 16,90 Euro und variiert nach Spielhäufigkeit. So setzen Gelegenheitsspieler etwa 6,10 Euro, monatliche Spielteilnehmer etwa 13,20 Euro und regelmäßige Wochenspieler etwa 30,10 Euro im Monat für die Teilnahme am Lottospiel ein. Auf diese Weise gelangen jede Woche etwa 100 Millionen Euro in die Annahmestellen.

Die Beliebtheit des Lottos lässt sich zunächst auf einige Merkmale des Spiels selbst zurückführen. Es handelt sich beim Lotto - im Gegensatz etwa zu Sportwetten - um ein reines Glücksspiel, das keine besonderen individuellen Fertigkeiten, keine besondere Intelligenz sowie keine sozialen oder kulturellen Geschicke erfordert. Auch ist es gut erreichbar: Ein dichtes Netz von Annahmestellen spannt sich über das Bundesgebiet. Zudem handelt es sich im Vergleich zu den distinkten Orten der Spielcasinos und Buchmacherbüros um ein sozial niedrigschwelliges Glücksspiel. Die Spielmöglichkeit ist an Konsumwaren des alltäglichen Bedarfs gebunden; Annahmestellen finden sich an Supermärkten und Kiosken. Ferner findet die Ziehung der Lottozahlen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen statt. Eine weitere Besonderheit der Spielgestaltung liegt in der extremen Differenz von Spieleinsatz und Gewinnsumme. Die Hauptgewinne beim Lotto liegen stets im mehrfachen Millionenbereich. Darin unterscheidet sich das Spiel von allen anderen Formen des Glücksspiels. Nur das Lotto bietet die minimale Chance auf einen Maximalgewinn, der für den Großteil aller Spieler eine katapultartige Transformation der materiellen Lebenssituation bewirken würde.

Doch die Aussicht auf den Hauptgewinn ist gering. Im statistischen Mittel gewinnt ein wöchentliches Los etwa alle 2,7 Millionen Jahre. Warum beteiligen sich dennoch Menschen an dem Spiel? Was genau erklärt die Nachfrage nach einem offensichtlich verlustbringenden Gut wie dem Lotterielos? Im Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung wurden zur Beantwortung dieser Frage vier Erklärungsansätze auf der Basis von Daten aus einer repräsentativen Telefonbefragung getestet.

Lotteriespieler verhalten sich irrational

Ausgangspunkt des ersten Ansatzes ist die Überlegung, dass die Nachfrage nach Lotterielosen eine ökonomisch irrationale Handlung darstellt, da sie ökonomischer Nutzenmaximierung widerspricht. Die Renditeerwartung eines Lotterieloses lässt sich exakt bestimmen. Sie entspricht nur etwa der Hälfte des erbrachten Spieleinsatzes. Akteure verfügen im Prinzip über vollständige Informationen zur Berechnung dieses Wertes. Beteiligen sich Akteure dennoch an der Lotterie, so muss der Kauf eines Loses letztlich auf einer falschen, irrationalen Einschätzung der tatsächlichen Gewinnerwartung beruhen. Aus der Kognitionspsychologie ist bekannt, dass Akteure nur begrenzt rational kalkulieren können. Menschen sind beispielsweise nicht in der Lage, bestimmte Wahrscheinlichkeiten adäquat zu beurteilen. Sie neigen stattdessen dazu, seltene Ereignisse in ihrer Wahrscheinlichkeit zu überschätzen, häufig auftretende Ereignisse dagegen zu unterschätzen. Diese Urteilsverzerrung verstärkt sich in dem Maße, in dem seltenen Ereignissen unverhältnismäßig größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Beispiel dafür ist die medienerzeugte Aufmerksamkeit für Lotteriegewinner durch die punktuell intensive Berichterstattung über deren Erfahrungen. Den allwöchentlichen, millionenfachen Nichtgewinnern wird hingegen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Die verstärkte Wahrnehmung von Geschichten über Lotteriegewinner führt demnach zu einen verzerrten Wahrnehmung der tatsächlichen Gewinnwahrscheinlichkeit beim Lotto.

Die aus der Befragung erlangten Daten bestätigen diese Theorie. Es zeigt sich, dass Lotteriespieler, die übermäßig positive Einschätzungen der Gewinnwahrscheinlichkeiten haben, in der Tat häufiger und regelmäßiger spielen. Jedoch lassen sich nur bei acht Prozent der Lotteriespieler überschätzte Gewinnerwartungen feststellen. Die überwiegende Mehrheit der Spieler ist sich der extremen Unwahrscheinlichkeit des Lotteriegewinns bewusst. Die Theorie erklärt also lediglich einen kleinen Teil der Spielbeteiligung.

Lotteriespiel als rationale Investition

Der zweite Ansatz versucht die Nachfrage im Lotteriemarkt als wirtschaftlich zweckrationales Handeln zu verstehen. Für fast alle Menschen ist das Lotteriespiel die einzige Möglichkeit, mit legalen Mitteln zu außerordentlichem Wohlstand zu gelangen. Konsumenten, so die Annahme, haben zunächst Bedürfnisse nach Gütern des Grundbedarfs wie Essen, Kleidung, Unterkunft und einigen weiteren Konsumartikeln. Wenn diese Bedürfnisse befriedigt sind, ist der Nutzen weiterer Güter der gleichen Art niedrig. Noch ein Hemd oder ein weiterer Kinobesuch steigern das Nutzenniveau nicht mehr. Sehr wohl würde das Nutzenniveau jedoch durch Güter gesteigert, deren Kosten weit jenseits des verfügbaren Einkommens liegen und die eine grundlegende Veränderung des materiellen Status bedeuten würden. Zum Beispiel wird der Nutzen aus einem eigenen Haus auch nicht teilweise erreicht, wenn nur "etwas" Geld für den Erwerb vorhanden ist.

Die einzige legale Möglichkeit, solche unteilbaren Güter zu erlangen, deren Kosten jenseits eigener Verdienstmöglichkeiten oder zu erwartender Mittel aus Schenkungen oder Erbschaften liegen, besteht in einem Lotteriegewinn. Da die Ausgaben für das Lotterielos nur marginale Teile des Haushaltsbudgets betreffen und deren Verausgabung für gewöhnliche Konsumgüter keinen weiteren Nutzen bringt, sind Akteure bereit, für die minimale Chance auf einen maximalen Gewinn die unfairen Bedingungen des Spiels in Kauf zu nehmen. Unter diesen Annahmen verletzt der Kauf von Lotterielosen nicht die Maximierungsannahme der ökonomischen Theorie: Es bestehen keine oder nur sehr geringe Opportunitätskosten bei den Käufern der Lose, sofern nur marginale Teile des Haushaltseinkommens dafür ausgegeben werden.

Betrachtet man die empirische Verteilung der monatlichen Ausgaben für Lotterielose als Anteil am verfügbaren Nettoeinkommen, so zeigt sich, dass zwar etwa 60 Prozent der Spieler nur einen unbedeutenden Anteil ihres Einkommens, der bei unter einem Prozent liegt, für Lotterielose ausgeben. Doch betrachten nur 29 Prozent der Spieler dieses Geld als triviales "Spielgeld" und nur 9 Prozent als "gut angelegtes" Geld. Für die Mehrzahl der Spieler müssen offenbar andere Beweggründe als der reine Investivcharakter des Spiels ausschlaggebend sein.

Lotteriespiel als Spannungsmanagement

Der dritte Ansatz erklärt die Nachfrage aus dem subjektiv erlebten Missverhältnis von erstrebtem und tatsächlichem Status. Funktionalistischen Theorien zufolge dient die Glücksspielteilnahme der Kanalisation von Spannungszuständen, die das Individuum in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft erfährt. So zeichnen sich kapitalistische Gesellschaften einerseits durch disziplinierende Anforderungen wie kontrollierte Ordnung, Routinen und Berechenbarkeit aus, andererseits fordern sie Individuen auf, Risiken einzugehen und unternehmerisch zu handeln. Zudem besteht ein Spannungsverhältnis zwischen einer gesellschaftlich geforderten Wertorientierung - erfolgreich zu sein - und einer zwischen den Gesellschaftsmitgliedern ungleich verteilten Verfügbarkeit der Mittel zur Erlangung dieses Erfolgs. Das Lotteriespiel stellt nun eine gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit der Entladung solch strukturell induzierter Spannungen dar. Indem das Glücksspiel die Hoffnung bereithält, den auferlegten materiellen und sozialen Statusschranken zu entkommen, dient es der Kompensation des Gefühls, vom Erfolg abgehängt und vom angestrebten Wohlstand entkoppelt zu sein.

Die empirische Prüfung im Rahmen des Forschungsprojekts zeigt, dass die Theorie des Lottospiels als Spannungsmanagement zwar nicht die Teilnahmehäufigkeit, wohl aber die Höhe der Spieleinsätze vorhersagt. So etwa steigt die Wahrscheinlichkeit hoher monatlicher Ausgaben für Lotterielose als Anteil am Einkommen einerseits mit sinkendem Einkommen, geringer formaler Bildung und niedrigem Berufsprestige, und andererseits mit dem Grad subjektiv erlebter Eintönigkeit im Berufs- und Alltagsleben, Gefühlen des Benachteiligtseins oder dem Wunsch nach Verbesserung der materiellen Lebenssituation. Spieler kanalisieren ihre Spannungszustände nicht in bedachter, regelmäßiger Spielbeteiligung, sondern impulsiv in Form hoher Spieleinsätze. Doch auch hier gilt, dass die Theorie nur das Verhalten eines Teils der Spieler erklärt. Denn viele Spieler empfinden die Spannungszustände nicht, die Grundlage der Theorie sind. Umgekehrt beteiligen sich nicht alle Menschen, die Spannungszustände erleben, an der Lotterie - eine Kanalisation ist auch durch andere Aktivitäten wie Risikosport oder Videospiele denkbar.

Lotteriespiel als soziales Netzwerk

Eine vierte Erklärung des Nachfrageverhaltens führt die Spielmotivation auf den Einfluss sozialer Netzwerkstrukturen zurück und verweist damit auf die Bedeutung sozialstruktureller Einbettung für das Zustandekommen von Märkten. Etwa ein Viertel der Lotteriespieler in Deutschland teilt sich den Tippschein mit Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen. Das Spielen in Gemeinschaft mit anderen motiviert möglicherweise zur eigenen Spielbeteiligung. Der Wert des Lotterieloses liegt für diese Spieler nicht primär in der Gewinnerwartung, sondern in den sozialen Sekundäreffekten, die sich aus der Mitgliedschaft in der Gruppe ergeben. Das Gemeinschaftsspiel ist eine Gruppenaktivität und stabilisiert soziale Kontakte. Es eröffnet den Gruppenmitgliedern Geselligkeit und geteilte emotionale Erlebnisse. Über diese Effekte werden dann auch solche Personen zur Spielteilnahme ermutigt, die sich allein nicht am Spiel beteiligen würden. So etwa folgt die Spielbeteiligung des Managers in der betrieblichen Tippgemeinschaft nicht aus der Erwartung eines Gewinnes, sondern aus den und sozialintegrativen Folgewirkungen, die das Gemeinschaftsspiel auf das Betriebsklima ausübt.

Diese Theorie findet in zweierlei Hinsicht Bekräftigung. Zum einen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit regelmäßiger Spielteilnahme signifikant durch die Anzahl der engen Beziehungen, die eine Person zu anderen Lotteriespielern unterhält. Mit jeder weiteren engen Bekanntschaft steigt die Wahrscheinlichkeit um etwa 50 Prozent. Zum anderen spielen Personen in Tippgemeinschaften etwa um das Dreieinhalbfache häufiger regelmäßig Lotto als Spieler, die alleine spielen. Gleichzeitig verringert das Gemeinschaftsspiel signifikant das Risiko des hohen relativen Spieleinsatzes, was auf den mildernd-restriktiven Einfluss von Gruppennormen auf ihre Mitglieder verweist, die überstürztes Spiel - etwa aus virulent werdenden Spannungszuständen - abzufedern scheinen. Die sozialstrukturelle Umgebung der Spieler erweist sich folglich als ein nicht unerheblicher Einflussfaktor zur Erklärung der Nachfrage nach Lotterielosen.

Lotteriespiel als "Baugenehmigung für Luftschlösser"

Keiner der vier Ansätze bezieht systematisch eine weitere Qualität von Lotterielosen ein, die für die Spielbeteiligung jedoch von großer Bedeutung ist. Mit dem Los erwirbt der Käufer eine minimale Chance auf einen Gewinn, der ihm unerreichbaren Reichtum bringen würde. Diese Möglichkeit, und ist sie noch so unwahrscheinlich, stellt eine zentrale Attraktion des Lotteriespiels dar. Sie ermöglicht den Spielteilnehmern nämlich das Eintauchen in Phantasiewelten als angenehm empfundener Tagträume. 62,5 Prozent der Lotteriespieler hängen regelmäßig solchen Tagträumen nach. Das Lotterieticket ist eine "Baugenehmigung für Luftschlösser" - es ermöglicht die Vorstellung außerordentlichen Wohlstands und der damit verbundenen sozialen Anerkennung durch andere. Hierin liegt auch eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung des Lotteriespiels: Das Eintauchen in Traumwelten ist einerseits eine soziale Praxis, mit der die Spieler eine Orientierung an jene materiellen Werte, die mit dem Lotteriegewinn verbunden sind, erzeugen, erfahren und bestätigen. Andererseits verkörpert das Lotterielos das Versprechen, dass großer Wohlstand letztendlich für alle erreichbar ist. Das Lotteriespiel hat somit eine sozialintegrative Bedeutung.

Dass aufgrund von Tagträumen jedes Jahr allein in Deutschland Milliarden für ein Produkt ausgegeben werden, bei dem allein der Staat und die Annahmestellen sichere Gewinner sind, macht Wirtschaftssoziologen hellhörig. Denn gilt nicht für viele Konsumprodukte, dass die Vorstellung ihres Besitzes solche Tagträume hervorruft und genau diese Phantasien den Kauf motivieren? Liegt hierin möglicherweise die Grundlage für die Erklärung von Nachfrageverhalten weit über das Lotteriespiel hinaus?

BA

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