Neandertaler schufen die ersten Spezialwerkzeuge Europas aus Knochen

Uraltes Erbe: Heutige Schleifwerkzeuge zur Lederbearbeitung wurden in ähnlicher Form schon von den Neandertalern gefertigt

12. August 2013

Noch heute, 50.000 Jahre nach den Neandertalern und der Ankunft der ersten anatomisch modernen Menschen in Europa, werden sogenannte Lissoirs zur Verarbeitung von Tierhäuten benutzt. Die aus den Rippen von Rehwild hergestellten Schleifgeräte machen Leder weicher, glatter und wasserbeständiger. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und von der Universität Leiden in den Niederlanden haben in zwei einander benachbarten altsteinzeitlichen Ausgrabungsstätten im Südwesten Frankreichs Neandertaler-Werkzeuge aus Knochen entdeckt, die solchen Lissoirs sehr ähnlich sind. Die Werkzeuge unterscheiden sich von allen zuvor in Neandertaler-Stätten gefundenen Geräten.

Welche Fertigkeiten die Neandertaler besaßen, ist noch immer umstritten: Einige Forscher sind der Meinung, dass Neandertaler über kulturelle Fähigkeiten ähnlich denen des modernen Menschen verfügten, andere, dass diese Ähnlichkeiten erst auftraten, nachdem moderne Menschen und Neandertaler einander begegnet waren. Vor etwa 40.000 Jahren hat der moderne Mensch den Neandertaler in Europa schließlich verdrängt.

„Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Knochenwerkzeuge aus Abri Peyrony und Pech-de-l’Azé I die besten Belege dafür, dass die Neandertaler selbst eine Technologie entwickelt hatten, die man bisher ausschließlich mit modernen Menschen in Verbindung brachte“, erklärt Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er und Michel Lenoir von der Universität Bordeaux haben Ausgrabungsarbeiten in Abri Peyrony durchgeführt, wo drei der Knochen gefunden wurden.

„Sollten Neandertaler diesen Knochenwerkzeugtyp selbst entwickelt haben, übernahmen moderne Menschen die Technologie möglicherweise von ihnen. Als sie Europa besiedelten, brachten moderne Menschen scheinbar nur spitze Knochenwerkzeuge mit, stellten aber wenig später Lissoirs her. Dies ist der erste Hinweis darauf, dass es möglicherweise zu einem ‚kulturellen‘ Transfer zwischen Neandertalern und unseren direkten Vorfahren gekommen ist“, sagt Marie Soressi von der Universität Leiden in den Niederlanden. Zusammen mit William Rendu vom CNRS fanden Soressi und ihr Team das erste von vier Knochenwerkzeugen während ihrer Ausgrabungsarbeiten in der klassischen Neandertalerfundstätte Pech-de-l’Azé I.

Die Forscher können jedoch nicht völlig ausschließen, dass der moderne Mensch früher in Europa eingetroffen sein könnte als bisher bekannt und das Verhalten der Neandertaler beeinflusst hat. Um dieser Frage nachzugehen, müssen weitere Fundstätten in Zentraleuropa erschlossen werden, die besser konservierte Knochen enthalten.

Wie weit verbreitet diese neue Verhaltensweise der Lissoir-Herstellung bei den Neandertalern war, ist derzeit noch nicht bekannt. Bei den ersten drei Fundstücken handelte es sich um jeweils wenige Zentimeter lange Fragmente, die man kaum als Werkzeuge erkannt hätte. „Legt man aber diese kleinen Fragmente zusammen und vergleicht sie mit Funden aus jüngeren Ausgrabungsstätten, wird ein Muster deutlich“, sagt McPherron. „Im vergangenen Sommer sind wir dann auf ein größeres, vollständigeres Werkzeug gestoßen, unverkennbar ein Lissoir, wie wir ihn in jüngeren Fundstätten des modernen Menschen oder sogar heutzutage in einer Lederwerkstatt finden.“

Mikroverschleißanalysen an einem der Knochenwerkzeuge zeigen Spuren, die auf eine Anwendung des Werkzeugs auf ein weiches Material hindeutet, wie z.B. Tierhaut. Moderne Lederarbeiter nutzen ähnliche Werkzeuge noch heute. „Lissoirs wie diese eignen sich so gut zur Bearbeitung von Leder, dass ich 50.000 Jahre nachdem die Neandertaler sie herstellten, über das Internet von einer Website, die traditionelle Handwerkszeuge verkauft, ein fast baugleiches  Exemplar bestellen konnte“, sagt Soressi. „Dass sich das Werkzeug im Laufe der Zeit kaum verändert hat, zeigt, wie effizient es ist. Es könnte sich dabei um das einzige Erbe aus der Zeit der Neandertaler handeln, das unsere Gesellschaft heute noch nutzt.“

Dies sind nicht die ersten von Neandertalern hergestellten Werkzeuge aus Knochen; die bisher bekannten ähnelten jedoch in ihrer Form eher Steinwerkzeugen und wurden auch mithilfe von Steinbearbeitungstechniken hergestellt. „Neandertaler stellten manchmal Schaber und sogar Faustkeile aus Knochen her. Sie nutzen Knochen auch als Hämmer, um ihre Steinwerkzeuge zu schärfen“, sagt McPherron. „Hier aber haben wir ein Beispiel dafür, dass Neandertaler sich die Biegsamkeit und Flexibilität von Knochen zunutze machten, ihnen eine neue Form gaben und damit Arbeiten verrichteten, die sie mit Steinen nicht hätten ausführen können.”

Die Knochenwerkzeuge wurden in Ablagerungsschichten gefunden, die typische Neandertaler-Steinwerkzeuge sowie Knochen von gejagten Tieren wie Pferden, Rentieren, Rotwild und Bisons enthielten. Sowohl in Abri Peyrony als auch in Pech-de-l’Azé I gibt es keine Hinweise auf eine Nachnutzung der Stätte durch moderne Menschen, die die darunterliegenden Ebenen verunreinigt haben könnten. Beide Fundstätten beherbergten ausschließlich Neandertaler.

Um das Alter der Werkzeuge zu bestimmen, führte Sahra Talamo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie eine Radiokarbon-Datierung von Knochen durch, die sich in unmittelbarer Nähe der Knochenwerkzeuge befanden. In Pech-de-l’Azé datierte Zenobia Jacobs von der Universität Wollongong mithilfe der Optisch Stimulierten Lumineszenz (OSL) Methode Sedimente aus der Schicht, in der das Knochenwerkzeug gefunden wurde. Die Ergebnisse datierten das Knochenwerkzeug aus Pech-de-l’Azé I auf ein Alter von etwa 50.000 Jahren. Es ist somit älter als die ersten Belege zu modernen Menschen in Westeuropa und viel älter als andere spezialisierte Technologien zur Herstellung von Werkzeugen aus Knochen.

SJ/PG/HR

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Shannon P. McPherron ist der leitende Archäologe der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er führt Ausgrabungsarbeiten in Äthiopien, Marokko und Südwestfrankreich durch und initiierte das Projekt „Abri Peyrony“ zusammen mit Dr. Michel Lenoir vom französischen CNRS im Jahre 2009. Ziel seiner Arbeit in Südwestfrankreich ist es, die Anpassung von Neandertalern an ihre Umwelt unmittelbar vor der Ankunft moderner Menschen in Europa besser zu verstehen. Der Schwerpunkt seiner Forschung in Afrika liegt auf der Archäologie anatomisch moderner Menschen, die zeitgleich zu den europäischen Neandertalern in Afrika lebten und auf den frühesten Belegen zur Benutzung von Steinwerkzeugen.

Marie Soressi ist Assistenzprofessorin an der Universität Leiden in den Niederlanden. Durch laufende multidisziplinäre und internationale Ausgrabungsarbeiten, die sie leitet, konzentriert sich ihre Forschung darauf, den Rückgang der Neandertaler und die Ausbreitung von Populationen anatomisch moderner Menschen besser zu verstehen. Sie führt Ausgrabungsarbeiten in Frankreich durch und arbeitete auch bereits in Südafrika. Marie Soressi ist Gastforscherin in der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und war kürzlich als Projektleiterin für das Französische Nationale Institut für Präventive Archäologie (INRAP) tätig.

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Ausgrabungsgenehmigungen und Fördermittel wurden vom Musée National de Préhistoire des Eyzies, dem Service Régional de l’Archéologie d’Aquitaine, dem Service Départemental de l’Archéologie de la Dordogne, der Commission inter-régionale de la Recherche Archéologique d’Aquitaine, dem Conseil Général de Dordogne, dem Australian Research Council (DP1092438) und der Max-Planck-Gesellschaft zur Verfügung gestellt.

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