Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Integrable Superspinketten und Rotierende Superstrings
Integrable Super-Spinchains and Rotating Superstrings
Quantengravitation und vereinheitlichte Theorien (Prof. Dr. Hermann Nicolai)
MPI für Gravitationsphysik, Golm
Vitalität der Superstringtheorie
Die Superstringtheorie ist der wichtigste Kandidat für eine Theorie der Quantengravitation, also für die Vereinigung von Quantenfeldtheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie. Dies hat mindestens zweierlei Gründe. Zum einen stellt sie einen natürlichen strukturellen Zusammenhang zwischen Einsteins Relativitätstheorie und den so genannten Eichtheorien, nämlich denjenigen Quantenfeldtheorien, die alle weiteren bekannten, nichtgravitativen Wechselwirkungen in der Natur beschreiben, her. Stringtheoretiker stehen damit in der Tradition der großen Physiker des vergangenen Jahrhunderts, die allesamt bis zu ihrem Tode an diesem Problem der Vereinheitlichung arbeiteten: Einstein (der allerdings die Quantenmechanik insgesamt ablehnte), Pauli, Schrödinger und Heisenberg. Der zweite Grund ist von eher "wissenschaftsstrategischer" Art: Das Studium der Superstrings führte in den vergangenen 25 Jahren zu einer Vielzahl von Spinoffs, die sowohl die Physik als auch die Mathematik entscheidend befruchteten. Im Rahmen dieses Beitrages werden wir ein weiteres, aktuelles Beispiel für diese Lebendigkeit erörtern.
Was ist Stringtheorie?
Die Fähigkeit der Stringtheorie, immer neue, für die Physik und Mathematik relevante Strukturen zu erzeugen, ist umso erstaunlicher, als bis heute niemand eine gute Antwort auf die Frage hat, wie denn die Theorie genau definiert sei. Entdeckt wurde sie beim Versuch, gewisse Aspekte der starken Wechselwirkungen, also derjenigen Naturkräfte, die für den Zusammenhalt der Atomkerne verantwortlich sind, zu beschreiben. Beim Versuch, die Bestandteile der Kerne etwa im Rahmen eines hochenergetischen Kollisionsprozesses an einem Beschleuniger auseinander zu ziehen, entstehen schlauchartige Kraftlinien. Dies führte zu der Idee, die Elementarteilchen durch eindimensionale Fäden (Strings) zu ersetzen. Allerdings stellte sich auch schnell heraus, dass dieser Ansatz dennoch nicht direkt anwendbar war. Um zu einer widerspruchsfreien Theorie zu kommen, müssen die Strings sowohl "bosonische" (dies sind Bestandteile mit ganzahligem Eigendrehimpuls oder "Spin") als auch "fermionische" (Konstituenten mit halbzahligem Spin) Freiheitsgrade besitzen, die durch die so genannte Supersymmetrie verknüpft sind: Also Superstrings statt Strings. Zum zweiten müssen sich die Fäden in einer zehndimensionalen Raumzeit bewegen. Beide Aspekte sind ebenso inkompatibel mit der Struktur der starken Wechselwirkung wie auch eine dritte Eigenschaft der Superstrings: letztere besitzen nämlich masselose Spin-2-Anregungen. Nun konnten aber kurz nach der Erfindung der Strings aus allen drei Nöten Tugenden gemacht werden: Die masselosen Spin-2-Teilchen konnten als Gravitonen, also als die Elementarteilchen der Schwerkraft identifiziert werden, in den überschüssigen sechs Raumzeitdimensionen konnten die weiteren Kräfte des Standardmodells der Elementarteilchen "versteckt" werden, und die Supersymmetrie hilft bei der Konstruktion von vereinheitlichten Erweiterungen dieses Standardmodells.
Allerdings harrt die Supersymmetrie noch der experimentellen Bestätigung, wie vielleicht etwa, in den kommenden Jahren am "Large Hadron Collider" in Genf. Leider konnte bisher jedoch noch keine vollständig realistische und detaillierte mathematische Beschreibung für das richtige "Verpacken" aller Wechselwirkungen gefunden werden. Dies liegt unter anderem daran, dass die erlaubte Struktur der zehndimensionalen Raumzeit ungeheuer reichhaltig ist und momentan zu wenig Prinzipien bekannt sind, wie diese festzulegen sei. Aus diesem Grund beschäftigt sich eine wichtige Forschungsrichtung mit der Frage, wie man Stringtheorien präzise definieren kann, und insbesondere damit, ob Strings aus wie immer gearteten Bausteinen (oft "Stringbits" genannt) zusammengesetzt sein könnten. Für diese Frage ist es sehr hilfreich, im Sinne eines Gedankenexperimentes die zehndimensionale Raumzeit, vielfach als "Hintergrund" bezeichnet, möglichst symmetrisch zu wählen, auch wenn dies phänomenologisch zunächst nicht von unmittelbarer Bedeutung ist. Ein besonders interessanter Hintergrund ist der Produktraum aus einem fünfdimensionalen Kegel - der so genannte Anti-DeSitterraum - und einer fünfdimensionalen Kugel (in mathematischer Kurzbezeichnung: AdS5 x S5). Hier besteht ein Zusammenhang mit konformen Quantenfeldtheorien von punkförmigen Teilchen, dessen Verständnis uns tiefe Einsichten in die erwähnte Frage der Existenz von Stringbits verspricht.
Konforme Quantenfeldtheorien in zwei und vier Dimensionen
Konforme Theorien besitzen neben den üblichen Raumzeitsymmetrien, wie der Invarianz unter Drehungen und Verschiebungen, die weitere Symmetrie der Skaleninvarianz: Die Theorie verhält sich auf allen Längenskalen vollständig gleich. Die mathematische Analyse der konformen Feldtheorien in zwei Dimensionen lieferte in den vergangenen Jahren ein hervorragendes Beispiel für die positiven Spinoffeffekte der Stringtheorie, da die erforderliche mathematische Struktur zunächst im Rahmen der Stringquantisierung geschaffen wurde. Der Zusammenhang entsteht dadurch, dass die zeitliche Evolution der Strings zu zweidimensionalen Flächen in der Raumzeit führt. Neben ihrem großen mathematischem Reichtum lieferten die konformen Theorien physikalisch ein quantitatives Verständnis der zweidimensionalen Phasenübergänge. In jedem Fall bilden sie eine der Grundlagen unseres - wenn auch noch sehr unvollständigen - Wissens über die oben diskutierten Superstringtheorien.
Auch in vier Dimensionen existieren konforme Feldtheorien jenseits des trivialen freien, masselosen Falles. Seit ca. 25 Jahren ist bekannt, dass die Quanteneichtheorie mit maximal möglicher Anzahl N von Supersymmetrien, die so genannte N=4-Super-Yang-Millstheorie, konforme Symmetrie besitzt. Dennoch wurde dieses interessante System lange Zeit wenig beachtet, da es von geringem phänomenologischem Interesse schien: Zwar wird das Standardmodell der Elementarteilchen durchweg von Eichtheorien beschrieben, aber dort ist die Skaleninvarianz keine Symmetrie. Nun wurde sogar manchmal vermutet, dass es sich bei dieser N=4-Theorie ebenfalls um eine freie Feldtheorie handeln könnte. Neues Interesse entstand vor sieben Jahren im Rahmen der AdS/CFT- Korrespondenz (AdS/CFT steht für "Anti-DeSitter/Conformal Field Theory"). Diese behauptet bislang unbewiesen, dass die N=4-Theorie exakt äquivalent zu einem Superstring auf dem oben erwähnten gekrümmten Produktraum AdS5 x S5 sei. Allerdings konnten bis vor kurzem nahezu alle Tests dieser Vermutung im wesentlichen auf die Übereinstimmung der beiden Theorien gemeinsamen Symmetrien zurückgeführt werden. Dieser unbefriedigende Zustand änderte sich schlagartig in jüngster Zeit mit der Durchführung neuartiger Tests der Korrespondenz. Der Erfolg dieses frischen Zugangs kann zum großen Teil auf die Einführung neuer Rechenmethoden und insbesondere auf die Entdeckung so genannter integrabler Strukturen in beiden Theorien zurückgeführt werden. Der letztere Aspekt ist hierbei besonders bedeutsam, da man nun hoffen kann, eine Vielzahl der zu Beginn erwähnten zwei-dimensionalen Methodik und Resultate auch im vier-dimensionalen Fall der N=4-Theorie anwenden zu können.
Konforme Feldtheorie und Integrable Spinketten
In der Abteilung "Quantengravitation und vereinheitlichte Theorien" konnte in den letzten zwei Jahren von Beisert, Kristjansen und Staudacher [1, 2] ein neuer Zugang für den Umgang mit der N=4-Theorie entwickelt werden (siehe auch Klose und Plefka [3]). Zudem erlaubten diese Fortschritte völlig neuartige mathematische Tests der AdS/CFT-Vermutung. Aufgrund des Umfanges und der Vielzahl der Beiträge kann hier nur versucht werden, einige der Hauptergebnisse kurz herauszustellen und mancher, für die Zukunft vielleicht wesentliche Aspekt muss unerwähnt bleiben.
Ein wichtiger Beitrag der Arbeiten am Institut war die Einsicht in die zentrale Rolle des so genannten Dilatationsoperators für das quantitative Verständnis des Energiespektrums der N=4-Theorie [1]. Die Theorie dieses Operators wurde in Analogie zu der des aus der Quantenmechanik bekannten Hamiltonoperators entwickelt. In der Quantenmechanik erlaubt der "Hamiltonian" nämlich die Berechnung des Energiespektrums von Ein- und Mehrteilchensystemen und stellt somit die Grundlage unseres Verständnisses der Atome und der Festkörper dar. Beim N=4-Modell wurde nun vor einiger Zeit von Minahan und Zarembo [4] in einem sehr speziellen, approximativen Fall gezeigt, dass der Dilatationsoperator identisch mit dem Hamiltonian eines sehr einfachen, und zudem exakt lösbaren Modells der Festkörperphysik ist, eine so genannten Integrablen Spinkette. Dieses Ergebnis führt zu dramatischen Vereinfachungen bei der Berechnung des N=4-Energiespektrums.
Es gelang uns zu zeigen, dass es sich bei dieser Beobachtung um keinen Zufall handelte, und dass sich die Analogie zwischen dem Dilatationsoperator und dem Hamiltonian einer integrablen Spinkette auf alle Freiheitsgrade der Theorie ausdehnt, und vermutlich sogar exakt ist [1, 2, 3, 5, 6, 7].
Was nun ist eine "integrable Spinkette"?
Spinketten (siehe Abb. 1) wurden im Jahre 1928 von Heisenberg als einfachste eindimensionale quantenmechanische Modelle für ein Metall eingeführt: Es handelt sich hier um eine Kette, auf deren Gliedern als Freiheitsgrade die Spins (dargestellt durch die kleinen Pfeile) aneinandergereiht sind.
Die einfachste solche Kette, bei der nur benachbarte Spins miteinander wechselwirken, wurde 1931 von Hans Bethe exakt gelöst, das heißt, ihr Energiespektrum konnte exakt bestimmt werden. Der tiefere Grund für die mathematische Lösbarkeit dieses Problems wurde erst in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts verstanden, und mit dem Terminus technicus "Integrabilität" belegt.
Dieser Grund liegt in der Existenz unendlich vieler "versteckter" Symmetrien. Dies führt dazu, dass die elementaren Anregungen der Spinkette nur paarweise wechselwirken. Die Abfolge der Interaktion ist dabei irrelevant, woraus die so genannte Yang-Baxter-Gleichung folgt, die als Mastergleichung hinter der Lösbarkeit des Systems steht. Diese Gleichung ist in Abbildung 2 symbolisch dargestellt; insbesondere ist darin sowohl der paarweise Charakter der Wechselwirkung, als auch die Irrelevanz der Abfolge veranschaulicht.
Unsere Arbeiten zur kompletten Beschreibung des Spektrums der N=4-Theorie kann man nun in Kürze folgendermaßen veranschaulichen: Erstens konnten wir mathematisch präzise zeigen, wie man in Abbildung 1 die Spins durch ähnliche, aber komplexere Objekte zu ersetzen hat [2]. Zweitens konnten wir argumentieren, dass die Spins auf der Kette nicht nur mit ihren nächsten Nachbarn, sondern nach bestimmten Gesetzen mit allen anderen Spins wechselwirken [1]. Drittens, und wohl am wichtigsten, konnten wir zeigen, dass auch nach der Implementierung beider Verallgemeinerungen die für die exakte Lösbarkeit wesentliche Yang-Baxter-Gleichung in Abbildung 2 weiter erfüllt ist [1, 3, 5, 6, 7]! Unsere Entdeckungen führen somit zu integrablen, langreichweitigen Superspinketten (das "Super" steht für die Tatsache, dass unsere neuartigen Spinketten die Supersymmetrie der N=4-Theorie erhalten). Solche Spinketten wurden bisher in der Festkörperphysik nur ganz am Rande untersucht. Ihre Entdeckung in einem ganz anderem Gebiet der theoretischen Physik ist besonders faszinierend.
Rotierende Superstrings
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil unserer Arbeiten sind die Konsequenzen der Spinkettenanalogie für die AdS/CFT- Korrespondenz. Die Zustandsenergien
des N=4-Modells sollten nämlich in direktem Zusammenhang mit den Energien angeregter Stringzustände stehen. So konnten wir zeigen, wie der Spinkettenansatz zu einer Vielzahl äußerst subtiler Vorhersagen für das Stringspektrum auf dem gekrümmten Raum AdS5 x S5 führt. Viele dieser Resultate wurden durch entsprechende Stringrechnungen auf beeindruckende Weise bereits bestätigt. Diese Rechnungen können bisher nur in bestimmten Grenzfällen durchgeführt werden, da die exakte Quantisierung des Strings auf diesem Raum noch nicht verstanden ist. Hier trugen Arutyunov, Beisert und Staudacher am Albert-Einstein-Institut Wesentliches bei, indem sie die analogen integrablen Strukturen auf der Stringseite der Korrespondenz direkt herausarbeiteten [8, 9, 10].
In jüngster Zeit wurden allerdings auch einige Diskrepanzen zwischen den Eich- und Stringtheorievorhersagen entdeckt, und man darf hoffen, dass deren quantitative Erklärung zu weiteren tiefen Einsichten in die Korrespondenz führen wird [6]. Vielleicht werden wir bald besser verstehen, was Stringtheorie wirklich ist.