Gedächtnis braucht keine dauerhaften Synapsen im Hippocampus
Forscher untersuchen, wie neue Eindrücke ins Langzeitgedächtnis übertragen werden
Die Hirnforschung wurde durch den berühmten Patienten H.M. revolutioniert, der sich nach einer Hirnoperation im Jahr 1953 an keine neuen Erlebnisse mehr erinnern konnte. Nur ein kleiner Bereich im Gehirn – der Hippocampus – ist dafür verantwortlich, dass neu gewonnene Eindrücke ins Langzeitgedächtnis abgespeichert werden. Alessio Attardo, Gruppenleiter am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie, konnte mit neuesten Mikroskopie-Techniken und ausgeklügelten mathematischen Modellen zeigen, dass dendritische Dornen und Synapsen im Hippocampus von Mäusen nur so lange bestehen, bis Erinnerungen von dort ins Langzeitgedächtnis übertragen werden.
Im Jahr 1953 verlor Henry Molaison, besser bekannt als Patient H.M., die Fähigkeit, neue Erinnerungen abzuspeichern. Was war geschehen? Seit seiner Kindheit litt er an heftigen epileptischen Anfällen. In einer bahnbrechenden Operation wurden ihm aus beiden Hirnhälften fingergroße Stücke des mittleren Schläfenlappens entfernt – darunter große Teile des Hippocampus. Die epileptischen Anfälle wurden seltener, aber H.M. konnte fortan keine neuen Erinnerungen mehr speichern – sein Gehirn konnte keine Erfahrungen mehr im Langzeitgedächtnis ablegen. Mittlerweile wissen wir, dass im Hippocampus verschiedenste Informationen zusammenfließen, verarbeitet und dann zur Großhirnrinde zur dauerhaften Speicherung zurückgesandt werden. Der Hippocampus ist also die zentrale Schaltstelle zur Überführung von Erinnerungen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis.
Doch wie funktioniert diese Verarbeitung im Hippocampus auf zellulärer Ebene? Seit 2008 widmete sich der Neurowissenschaftler Alessio Attardo, jetzt Gruppenleiter am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie, zusammen mit James Fitzgerald, theoretischer Physiker und jetzt an der Harvard University (USA), unter der Leitung von Mark Schnitzer an der Stanford University (USA) dieser Frage.
Nervenzellen kommunizieren miteinander über sogenannte Synapsen: spezialisierte Strukturen die sich auf fingerartigen Ausstülpungen befinden, den dendritischen Dornen. Wenn immer wieder Signale von einer Nervenzelle zur anderen geschickt werden, stabilisieren sich die Synapsen und dendritischen Dornen zwischen den beiden Zellen. „In den Gehirnbereichen, die für das Langzeitgedächtnis zuständig sind, gibt es stabile und kurzlebige dendritische Dornen. Stabile speichern Erinnerungen ein Leben lang. Kurzlebige werden dann stabilisiert, wenn neue Informationen hinzukommen“, erklärt Alessio Attardo. „Wir dachten uns, dass das im Hippocampus anders sein muss, weil hier Erinnerungen nur vorübergehend verarbeitet werden.“
Und so ist es auch. Die Forscher haben nun durch neueste Mikroskop-Technologie und ausgeklügelte mathematische Modelle Hinweise darauf, dass Synapsen auf dendritischen Dornen im Hippocampus einer Maus nur etwa 30 Tage bestehen – genau so lange, wie es dauert, die Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Alessio Attardo und seine Kollegen haben für ihre Bildaufnahmen eine neue minimal-invasive Methode entwickelt. Sie verknüpften ein Endoskop mit einem 2-Photonen-Mikroskop und konnten so mehrere Wochen lang hochauflösende Bilder von dendritischen Dornen im Hippocampus lebender Mäuse aufnehmen.
„Dank dem fatalen Schicksal von Patient H.M. ist die Hirnforschung auf die wichtige Rolle des Hippocampus beim Lernen und Gedächtnis aufmerksam geworden“, fasst Alessio Attardo zusammen. „Mit unseren neuen Methoden können wir jetzt völlig neue Experimente machen. In München möchten wir nun den Zusammenhang zwischen Synapsen im Hippocampus und Lernen untersuchen. Wir werden uns vor allem darauf fokussieren, welchen Einfluss Stress dabei auf die molekularen Vorgänge hat.“
AN/HR