Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik
Ein Gen für mehr Gehirn
Vergleicht man das Gehirn des Menschen mit dem einer Maus, sticht ein Unterschied sofort ins Auge: Das menschliche Gehirn ist gefaltet, das Gehirn einer Maus hingegen glatt. Zudem ist das menschliche Gehirn im Verhältnis zum Körper viel größer als bei der Maus. Speziell der Neocortex ist beim Menschen deutlich ausgeprägter – dieser Bereich des Großhirns ist unter anderem dafür verantwortlich, dass wir träumen, sprechen oder komplex denken können. Noch interessanter fällt ein Vergleich mit unseren nahen Verwandten aus. Mit dem Schimpansen haben wir Menschen beispielsweise rund 99 Prozent der Gene gemeinsam. Trotz dieser großen Gemeinsamkeit liegt ein wichtiger Unterschied wiederum auf der Ebene des Gehirns: Das des Menschen ist dreimal so groß wie das von Schimpansen. Im Laufe der Evolution müssen also im menschlichen Genom und damit in den zellbiologischen und genetischen Faktoren der Entwicklung des zentralen Nervensystems Veränderungen erfolgt sein, die wiederum zu einem ausgeprägten Gehirnwachstum und zur Expansion des Neocortex geführt haben. Dieser kleine Unterschied ist entscheidend, denn letztlich tragen die Größe des menschlichen Gehirns und seine ausgeprägte Großhirnrinde entscheidend zu dem bei, was uns zum Menschen macht.
Um nach den Faktoren zu suchen, die diese Unterschiede zwischen dem menschlichen Gehirn und dem anderer Lebewesen auslösen und steuern, schafften Forscher um Wieland Huttner, Direktor und Forschungsgruppenleiter am MPI für molekulare Zellbiologie und Genetik, was bisher niemandem gelungen war: Sie entwickelten eine Methode, mit der man spezielle Subpopulationen von Hirn-Stammzellen aus dem sich entwickelnden Großhirn gewinnen kann [1]. Die Wissenschaftler isolierten zunächst verschiedene Stamm- und Vorläuferzelltypen aus fötalem Großhirngewebe von Menschen und Mäusen. Dann verglichen die Forscher die Gene, die in diesen diversen Zelltypen aktiv sind. Sie konnten 56 Gene identifizieren, die im Menschen, nicht aber in der Maus, vorkommen und eine Rolle bei der Gehirnentwicklung spielen könnten.
Dabei fiel auf, dass das Gen ARHGAP11B, das in keinem anderen Primaten als dem Menschen gefunden wurde, insbesondere in den sogenannten basalen Hirn-Stammzellen aktiv ist. Diese Zellen sind für die Expansion der Großhirnrinde im Laufe der Evolution besonders wichtig gewesen. Die Arbeitsgruppe von Huttner interessiert sich schon lange für die Geheimnisse der menschlichen Gehirnevolution. In den letzten Jahren machten die Forscher bereits mehrere Entdeckungen, die dazu beigetragen haben, die evolutionäre Entwicklung eines großen Gehirns zu verstehen. So identifizierten sie beispielsweise im Jahr 2010 einen neuen Stammzelltyp in der äußeren Keimzone des Gehirns.
Spektakuläre Entdeckung: Das menschenspezifische Gen funktioniert auch in Mäusen

Um zu testen, ob das Gen ARHGAP11B im Menschen tatsächlich dafür sorgt, dass mehr basale Hirn-Stammzellen gebildet werden und damit das Großhirn wächst, machten die Forscher die Gegenprobe und brachten das Gen in Mausembryonen ein. Das Ergebnis war spektakulär: In der Tat bewirkte das menschenspezifische Gen im kleineren Maushirn, dass sich deutlich mehr basale Hirn-Stammzellen bildeten und in der Hälfte der Fälle sogar Faltungen der sonst glatten Großhirnrinde entstanden – genau so, wie sie beim Menschen besonders ausgeprägt sind (Abb. 1). Somit kommt dem Gen ARHGAP11B eine Schlüsselrolle in der evolutionären Expansion der menschlichen Großhirnrinde zu. Es ist das erste menschenspezifische Gen, von dem gezeigt werden konnte, dass es maßgeblich zur Vermehrung der wichtigen basalen Hirn-Stammzellen beiträgt und eine Großhirnrindenfaltung auslösen kann.
Bemerkenswerterweise existierte das Gen ARHGAP11B auch schon im Genom von Neandertalern und Denisova-Menschen, wie Daten von an der Studie beteiligten Forschern um Svante Pääbo vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie belegen. Auch Neandertaler hatten ein ähnlich großes Gehirn wie der Mensch.
Als nächstes im Visier: Pax6
Die Schlüsselrolle des menschenspezifischen Gens ARHGAP11B in der evolutionären Expansion der Großhirnrinde ist eine große Entdeckung, doch die Forscher hatten noch weitere Gen-Kandidaten, deren Rolle in der Gehirnentwicklung sie intensiver untersuchen wollten. Unter anderem interessierte sie die spezifische Expression des Transkriptionsfaktors Pax6: Während der Entwicklung eines menschlichen Gehirns ist dieses Gen in den basalen Hirn-Stammzellen sehr aktiv, bei Mäusen hingegen deutlich weniger [2]. Das führt zu einem unterschiedlichen Verhalten dieser Zellen in Menschen und Mäusen: Im Menschen durchlaufen basale Vorläuferzellen mehrere Zellteilungs-Runden, wodurch die Anzahl der Nervenzellen beträchtlich ansteigt und damit auch die Größe des Neocortex. Bei Mäusen hingegen teilen sich diese Vorläuferzellen in der Regel nur ein Mal, was eine geringere Anzahl von Nervenzellen zur Folge hat. Die Idee war nun, die Expression des Transkriptionsfaktors Pax6 in Mausembryonen so nachzuahmen wie im sich entwickelnden menschlichen Gehirn und zu schauen, ob sich dann das Verhalten dieser Mauszellen dem von Vorläuferzellen im sich entwickelnden Primatengehirn ähnelt. Werden mehr Nervenzellen entstehen? Wird sich die Großhirnrinde auch bei der Maus ausdehnen?

Zu diesem Zweck entwickelten Forscher der Arbeitsgruppe von Wieland Huttner eine neuartige transgene Mauslinie. In diesen Mäusen konnten die Forscher nun die Expression von Pax6 in den kortikalen Stammzellen so verändern, dass sie in den basalen Vorläuferzellen wie im Menschen aufrechterhalten bleibt. Tatsächlich bewirkte diese Manipulation, dass sich die basalen Vorläuferzellen der Mausembryonen nun mehrfach teilten – ähnlich wie in Primaten. Das Ergebnis war nicht nur eine größere Population an basalen Vorläuferzellen; es wurden auch mehr kortikale Nervenzellen produziert, insbesondere für die oberste Schicht der Großhirnrinde – ein weiteres Merkmal eines höher entwickelten Neocortex (Abb. 2).
Damit zeigt die Studie, dass die veränderte Aktivität eines einzelnen Schlüsselgens einen großen Unterschied in der Gehirnentwicklung ausmachen kann. Die Gene ARHGAP11B und Pax6 sind jedoch nur Mosaiksteine in einem großen Puzzle: Eine zukünftige Herausforderung wird sein, einen umfassenden und ganzheitlichen Blick auf alle molekularen Veränderungen zu bekommen, die das menschliche Gehirn so groß gemacht haben.