Zeitmessung im Quantentunnel
Beim quantenmechanischen Tunneleffekt benötigen Teilchen einige Attosekunden, um eine Energiebarriere zu überwinden
Harry Potter kann vieles, was wir nicht können, auch durch Mauern gehen: Um zum Gleis 9 3/4 zu gelangen, wo der Zug zur Zauberschule Hogwarts hält, schlüpfen er und seine Mitschüler durch eine Wand zwischen den Gleisen neun und zehn. Was im wirklichen Leben unmöglich ist, gehört in der verrückten Welt der Quantenphysik zur Normalität: Teilchen wie etwa Elektronen können eigentlich unüberwindbare Energiebarrieren durchdringen. Physiker sprechen vom quantenmechanischen Tunneleffekt. Jetzt gelang Forschern des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg erstmals der Nachweis, dass Elektronen für den Tunnelvorgang eine endliche Zeit benötigen. Obwohl das Phänomen seit nahezu hundert Jahren bekannt ist, war bislang unklar, ob ein Teilchen für das Tunnelbohren Zeit benötigt oder ob es die Barriere ohne Zeitverlust durchdringen kann.
Der Tunneleffekt spielt nicht nur eine Rolle in ausgeklügelten Experimenten von Quantenphysikern, sondern auch in weithin bekannten Prozessen, etwa beim radioaktiven Zerfall: Im Innern eines Atomkerns sind die Protonen und Neutronen durch ein starkes Feld aneinander gebunden, das sie mit einer Energiebarriere einschließt. Man kann sich dies entfernt vorstellen wie Erbsen in einer Rührschüssel. Nach der klassischen Physik könnten die Teilchen den Energiewall nicht überwinden und aus dem Kern verschwinden. Nach den Gesetzen der Quantenphysik besteht aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass eines der Teilchen den Wall durchdringen kann. Befindet es sich außerhalb der Barriere, verlässt es den Kern, der damit radioaktiv zerfallen ist.
An diesem zufällig auftretenden Kernprozess lässt sich nicht feststellen, ob das Teilchen Zeit benötigt oder nicht, um durch den vom Kern aufgebauten Wall zu tunneln. Selbst Lehrbücher geben hierüber keine Auskunft. Nun hat die Heidelberger Gruppe einen Tunnelvorgang aber gezielt eingeleitet und dessen Dauer ermittelt.
Teilchen könnten instantan tunneln oder in einer gewissen Zeit
Als Untersuchungsobjekt dienten den Forschern Atome. Hierin erzeugt der Kern ein elektrisches Feld, das die ihn umgebenden Elektronen einschließt. Die Elektronen befinden sich gewissermaßen am Fuß eines sehr dicken Energiewalls, weswegen die Wahrscheinlichkeit, diesen zu durchtunneln, nahezu null ist. Deswegen sind Atome stabil. Wenn die Physiker allerdings einen kurzen Laserpuls auf die Teilchen einstrahlen, überlagert sich dessen periodisch schwingendes elektrisches Feld dem des Kerns. So verringert es für eine kurze Zeit die Breite des Walls, sodass die Wahrscheinlichkeit, den Wall zu durchtunneln, für ein gebundenes Elektron sehr groß wird. Tut es dies, so fliegt es vom Laserfeld geleitet fort und wird von einem Detektor nachgewiesen.
In einem solchen Experiment die Tunnelzeit zu bestimmen, erfordert jedoch einige Anstrengungen. Eine Gruppe von Theoretikern um Karen Hatsagortsyan in der Abteilung von Christoph Keitel hat diesen Vorgang zunächst theoretisch untersucht. Die einfachste Betrachtung, Simple-man-Model genannt, nimmt an, dass das Tunneln keine Zeit benötigt, das Elektron also instantan am Tunnelausgang und mit der Geschwindigkeit Null erscheint. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass das Elektron eine bestimmte Zeit benötigt, um durch die Energiebarriere zu tunneln. Diese Theorie veröffentlichte 1955 der Physiker und Nobelpreisträger Eugene Wigner.
Der Tunnelvorgang könnte bis zu 180 Attosekunden dauern
Zu berechnen, wie viel Zeit ein Elektron nach dem Modell von Eugene Wigner bei ihrem Experiment im Quantentunnel verbringen würde, war für die Physiker nicht einfach. „Die quantenmechanischen Berechnungen sind sehr aufwendig", kommentiert Christoph Keitel die Aufgabe. „Wir mussten das Wigner-Modell stark weiterentwickeln und sehr spezifische Details unseres Experiments berücksichtigen."
Wie das Ergebnis zeigt, braucht das Elektron eine gewisse Zeit, um die Barriere zu durchdringen, wenn es auch ein rasanter Sprint ist: „Nach unseren Lösungen benötigt das Elektron im Fall des Wigner-Modells im Bereich der verwendeten Laserintensitäten 80 bis 180 Attosekunden, um die Barriere zu durchtunneln", so Enderalp Yakaboylu, der die Rechnungen ausführte. Eine Attosekunde ist der milliardste Teil einer milliardstel Sekunden.
Zirkular polarisiertes Licht dreht den Energietopf des Atoms
Ebenso knifflig wie die Berechnung derart rasanter Vorgänge ist deren Messung. Sie erfordert eine extrem genaue Apparatur, wie sie Robert Moshammer in den vergangenen Jahren am Max-Planck-Institut für Kernphysik aufgebaut hat. Zudem mussten die Forscher einen ausgefeilten Trick anwenden, um herauszufinden, ob das Simple-Man- oder das Wigner-Modell die physikalische Realität beschreiben: Sie strahlten auf die Atome Laserpulse, die zirkular polarisiert waren. Das heißt, das elektrische Feld der Lichtwelle schwankte nicht nur sinusförmig, sondern drehte sich zudem. Wenn sich ein solches rotierendes Laserfeld dem elektrischen Feld des Atoms überlagert, dreht sich der gesamte Energietopf, in dem sich die Elektronen befinden.
Der Laserpuls regt zudem eines der Elektronen an und startet damit die Uhr. Das Teilchen durchtunnelt daraufhin die Energiebarriere und tritt an einer bestimmten Stelle aus. Wenn das Elektron hierfür Zeit benötigt, dann hat sich der Energietopf seit dem Start des Tunnelvorgangs ein wenig weitergedreht, und das Elektron tritt an einer anderen Stelle und in einem anderen Winkel aus, als wenn es ohne Zeitverlust tunneln würde. Diesen winzigen Winkelunterschied galt es zu messen.
Bei Argon und Krypton unterscheiden sich die Winkel der Flugbahnen
„Eine der größten Herausforderungen bestand in der exakten Winkelmessung", sagt Thomas Pfeifer. Vor allem ist es extrem schwierig, den Winkel der Elektronbahnen absolut zu messen. Dieses Problem umgingen die Physiker mit einem entscheidenden Kniff: Sie untersuchten gleichzeitig ein Gemisch aus Argon- und Kryptonatomen, die sich in Barrierenhöhe und Tunnelstreckenlänge ein wenig unterscheiden.
Im Simple-Man-Modell spielt dieser Unterschied keine Rolle; beide Atomsorten verhalten sich praktisch gleich, da die Tunnelzeit immer gleich Null ist. Folgen die Elektronen aber dem Wigner-Modell, absolvieren sie den Sprint durch den Quantentunnel verschiedenen Zeiten, was sich in leicht voneinander abweichenden Winkeln der Elektronflugbahnen äußert. Der Winkel zwischen diesen beiden Flugbahnen lässt erheblich genauer messen, als der absolute Winkel einer einzigen Flugbahn.
„Wir haben das Gasgemisch mit 3000 Pulsen pro Sekunde beschossen und konnten Schuss für Schuss analysieren, in welcher Atomsorte der Tunneleffekt ausgelöst wurde", so Nicolas Camus, der die Messungen durchführte. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Messdaten bestätigen das Wigner-Modell quantitativ und sind mit dem instantanen Tunnelvorgang des Simple-Man-Modells nicht vereinbar. Damit beenden die Heidelberger Physiker eine jahrzehntelange Diskussion und schließen eine Lücke in den Lehrbüchern der Quantenphysik.
TB