Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Liaison zwischen einer Neandertalerin und einem Denisovaner
Vor etwa 400.000 bis 40.000 Jahren lebten in Eurasien mindestens zwei Gruppen von Urmenschen. Neandertaler wurden erstmals 1856 entdeckt und sind heute von Hunderten archäologischen Stätten in ganz Europa, dem Mittleren Osten und Teilen Zentralasiens bekannt. Denisovaner wurden erst 2010 entdeckt, als ein Forschungsteam unter der Leitung von Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig, das Genom eines Fossils aus der Denisova-Höhle (Russland) sequenzierte und nachwies, dass es zu einer Gruppe von Urmenschen gehörte, die sich genetisch von Neandertalern unterschied. Bisher sind Fossilien von dieser Gruppe nur in der Denisova-Höhle identifiziert worden, aber Spuren von Denisovaner-DNA in heutigen Ozeaniern und Südostasiaten deuten darauf hin, dass Denisovaner einst möglicherweise in Asien weit verbreitet gewesen sind. Um die Geschichte der Neandertaler und der Denisovaner und ihre Beziehungen zu modernen Menschen besser zu verstehen, hat das MPI-EVA-Team mit dem Team von Anatoli Derevianko und seinen Kolleginnen und Kollegen vom sibirischen Zweig der Russischen Akademie der Wissenschaften zusammengearbeitet und DNA von weiteren Fossilien aus der Denisova-Höhle sequenziert.
Eine unerwartete Familiengeschichte
Wir sequenzierten das Genom von „Denisova 11“, einem kleinen Knochenfragment, das im Jahr 2014 ausgegraben wurde. Seiner Größe nach war das Fragment Teil eines Arm- oder Beinknochens einer Person, die mindestens 13 Jahre alt war. Da die in der Denisova-Höhle gefundenen Skelettüberreste sowohl von Neandertalern als auch von Denisovanern stammten, konzentrierte sich unsere erste Analyse darauf, festzustellen, ob es sich bei Denisova 11 um einen Neandertaler oder einen Denisovaner handelte. Dazu überprüften wir zunächst, ob sich im Genom mehr neandertalerähnliche oder mehr denisovanerähnliche genetische Varianten finden lassen. Zu unserer Überraschung fanden sich die beiden Variantentypen zu fast gleichen Teilen; Denisova 11 stammt also sowohl von Neandertalern als auch von Denisovanern ab.
Zwei Erklärungen sind denkbar: Entweder stammten die Eltern von Denisova 11 aus einer gemischten Population, oder jeder der beiden Elternteile stammte aus einer anderen Gruppe. Um herauszufinden, welches dieser Szenarien wahrscheinlicher ist, haben wir untersucht, wie oft sich die von der Mutter vererbten Chromosomen von denen unterscheiden, die vom Vater vererbt wurden. Die Ergebnisse stimmen mit dem überein, was zu erwarten wäre, wenn Denisova 11 einen Satz Neandertaler-Chromosomen und einen Satz Denisovaner-Chromosomen hätte. Mit anderen Worten hatte Denisova 11 einen Neandertaler-Elternteil und einen Denisovaner-Elternteil.
Es zeigte sich außerdem, dass es im Genom von Denisova 11 zwei Kopien des X-Chromosoms gibt, es sich also um das Genom einer Frau handelt. Die mitochondriale DNA, ein kleiner Teil des Genoms, der nur von der Mutter vererbt wird, war vom Neandertaler-Typ. Daraus schlossen wir, dass Denisova 11 die Tochter einer Neandertaler-Mutter und eines Denisovaner-Vaters war. Wir hatten also einen direkten Beleg dafür gefunden, dass diese beiden Urmenschengruppen vor etwa 90.000 Jahren in oder nahe der Denisova-Höhle aufeinandergetroffen sind und Kontakt miteinander hatten.
Eine Geschichte von zwei Gruppen
Die gemischte Herkunft von Denisova 11 bot uns die einzigartige Gelegenheit, zwei Gruppen von Urmenschen anhand eines einzigen Genoms zu untersuchen. Zunächst verglichen wir die neandertalerähnliche DNA, die Denisova 11 von ihrer Mutter geerbt hat, mit zuvor sequenzierten Neandertalergenomen. Wir fanden heraus, dass die Mutter von Denisova 11, die vor ungefähr 90.000 Jahren lebte, näher mit einem Neandertaler verwandt war, der vor 55.000 Jahren in Südeuropa gelebt hatte, als mit einem früheren Neandertaler aus der Denisova-Höhle. Neandertaler müssen also zu mindestens einem Zeitpunkt in ihrer Geschichte zwischen Ost- und Westeurasien gewandert sein. Als wir dann die denisovanerähnliche DNA untersuchten, die Denisova 11 von ihrem Vater geerbt hatte, fanden wir in seinem Genom geringe Mengen von Neandertaler-DNA. Daraus lässt sich ableiten, dass er vor 300 bis 600 Generationen mindestens einen entfernten Neandertaler-Vorfahren hatte.
Die Menschen haben sich schon immer gemischt
Das Genom von Denisova 11 liefert den Beweis, dass sich Neandertaler und Denisovaner mehrmals miteinander gemischt haben: einmal zwischen ihren Eltern und mindestens einmal in der Familiengeschichte ihres Vaters. Daraus folgt, dass eine solche Mischung wiederholt stattgefunden hat. Die beiden Menschengruppen dürften sich jedoch nur sehr selten begegnet sein. Das würde auch erklären, wie die beiden Gruppen trotz gelegentlicher Vermischung genetisch unterschiedlich geblieben sind.
Obwohl dies das erste Mal ist, dass ein Kind zweier verschiedener Gruppen von Urmenschen identifiziert werden konnte, trägt unsere Studie zu einer steigenden Anzahl von Indizien dafür bei, dass in der Vergangenheit Vertreter verschiedener Menschengruppen miteinander Nachwuchs gezeugt haben. Das MPI-EVA hatte zuvor bereits entdeckt, dass sich Neandertaler mit den Vorfahren heutiger Nicht-Afrikaner vermischt hatten, dass ein etwa 40.000 Jahre alter moderner Mensch aus Rumänien einen Neandertaler-Vorfahren in seiner Familie hatte, der nur vier bis sechs Generationen vor ihm gelebt hatte, und dass sich Denisovaner mit den Vorfahren der heutigen Asiaten und Ozeanier sowie mit einer früheren noch unbekannten Gruppe von Urmenschen vermischt haben. Zusammengenommen belegen diese Studien, dass sich verschiedene Gruppen im Laufe unserer Evolutionsgeschichte schon immer vermischt haben.