Das Leben auf der auftauenden Schneeball-Erde
Nach einer globalen Vereisung ermöglichte räuberisches Plankton offenbar die Entwicklung heutiger Ökosysteme
Wer heute durch die flimmernde Hitze des Grand Canyon wandert, kann es sich kaum vorstellen: Vor rund 635 bis 720 Millionen Jahren waren die Gesteinsformationen noch tief unter Gletschereis verborgen. Vermutlich war in der heftigsten Vergletscherungsperiode der Erdgeschichte – man spricht vom Schneeball Erde – fast der gesamte Planet wiederholt vereist. Ein internationales Team, das von Forschern des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena geführt wurde, hat nun nähere Einblicke gewonnen, welche Organismen diese bis zu 50 Millionen Jahre langen, ununterbrochenen Frostphasen überdauerten und wie sich das Leben danach weiterentwickelt hat.
Organische Spuren von urzeitlichen Organismen sind extrem rar. Denn gewöhnlich zersetzen sich die entsprechenden Substanzen in kürzester Zeit. Manche Fette sind aber selbst aus dem Präkambrium, das vor 541 Millionen Jahren endete, unversehrt erhalten geblieben. So hat ein internationales Forscherteam aus fossilen Gesteinsproben nun 635 Millionen Jahre alte Moleküle, die aus der Auftauphase der globalen Vereisung stammen, isoliert und die Struktur der Verbindung charakterisiert.
„Wie alle höheren Lebewesen, die Menschen eingeschlossen, Cholesterin produzieren, erzeugen auch Plankton und Bakterien ähnlich charakteristische Fettmoleküle“, erläutert Lennart van Maldegem vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie, der maßgeblich an den Arbeiten beteiligt war und seit Kurzem an der Australian National University im australischen Canberra forscht. „Diese Fettmoleküle können im Gestein Millionen Jahre überdauern und uns Aufschluss darüber geben, welche Lebensformen vor langer Zeit im Ozean gediehen.“
Fossile Fette höchstwahrscheinlich von heterotrophem Plankton
Doch waren die jetzt entdeckten fossilen Fette nicht das, womit die Forscher gerechnet hatten. „Ganz und gar nicht“, so Teamleiter Christian Hallmann, „wir waren völlig verblüfft, denn diese Moleküle sahen anders aus als alles, was wir je zuvor gesehen hatten!“ Nach eingehenden, komplizierten Trennverfahren erhielt das Team winzige Mengen der Moleküle. Die Struktur der Verbindung klärten Wissenschaftler um Christian Griesinger, Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, auf. „Noch nie wurde eine neue Struktur anhand einer derart geringen Menge eines so alten Moleküls entschlüsselt“, erklärt Klaus Wolkenstein, der am Göttinger Max-Planck-Institut und am geowissenschaftlichen Zentrum der Uni Göttingen forscht. Die Verbindung identifizierten die Forscher als 25,28-Bisnorgammaceran, oder abgekürzt BNG.
Schneeball Erde
Der Ursprung der chemischen Verbindung blieb allerdings zunächst rätselhaft. „Wir forschten natürlich nach, ob diese neue Substanz noch irgendwo anders vorkommt“, sagt van Maldegem, der dafür Hunderte alter Gesteinsproben unterschiedlichster Herkunft untersuchte. Die Analysen hatten schließlich überraschenden Erfolg. Außer in den Gesteinen, die das Ende der weltweiten Vergletscherung miterlebten, kommt BNG besonders häufig in noch älteren Gesteinen des Grand Canyon vor. „Die Proben des Grand Canyon haben uns wirklich die Augen geöffnet“, so Hallmann. Detaillierte weiterführende Untersuchungen über wahrscheinliche BNG-Vorläufer-Moleküle sowie über die Anteile verschiedener Kohlenstoff-Isotope in den Molekülen aus den Gesteinen des Grand Canyon ließen als Interpretation nur wenig Spielraum zu: BNG stammt höchstwahrscheinlich von heterotrophem Plankton ab, also von Organismen, die ihre Energie nicht durch Photosynthese gewinnen.
Räuberische Arten schafften Raum für Algen und anderes Plankton
„Die BNG-haltigen Organismen waren demnach echte Räuber, die ihren Energiebedarf deckten, indem sie andere Algen und Bakterien jagten und verschlangen“, sagt van Maldegem. Solch räuberisches Plankton ist in den heutigen Weltmeeren keine Seltenheit. Doch die Entdeckung, dass es auch vor 635 Millionen Jahren, also unmittelbar nach der weltweiten Vergletscherung schon so häufig vorkam, ist für die Wissenschaft ein bedeutender Fortschritt.
„Parallel zum Auftreten des rätselhaften BNG-Moleküls beobachten wir weitreichende Veränderungen der Ökosysteme: Den Übergang von einer Welt, deren Meere praktisch ausschließlich von Bakterien bevölkert waren, zu einem stärker der heutigen Erde ähnelnden Ökosystem mit deutlich mehr Algen im Ozean“, sagt van Maldegem. Die Forscher gehen davon aus, dass das massive Auftreten von räuberischem Verhalten dazu beigetragen hat, die Ozeane von Bakterien zu säubern und so Raum für Algen und anderes Plankton zu schaffen. In der Folge schufen komplexere Nahrungsketten die Ernährungsgrundlage für größere, höher entwickelte Lebensformen. Daraus entstanden letztlich auch die Evolutionslinien, die Menschen und Tiere hervorbrachten. Das massenhafte Aufkommen von räuberischem Verhalten spielte also wahrscheinlich eine wesentliche Rolle im Wandel unseres Planeten und seiner Ökosysteme, bis zu dem Zustand, den wir heute kennen.
EF/PH