Astronomische Industriespionage
Beobachtungen zeigen Produktionsbeginn in einer fernen Planetenfabrik an
Mit Radiodaten des ALMA-Observatoriums und einem vereinfachten Modell konnten Astronomen um Kamber Schwarz (Max-Planck-Institut für Astronomie und Universität Arizona) die Masse einer potenziellen "Planetenfabrik" bestimmen, der protoplanetaren Scheibe um den Stern GM Aurigae. Die Untersuchung schließt die Rekonstruktion des Temperaturprofils ein und deutet daraufhin, dass die Fabrik gerade im Begriff ist, mit der Planetenproduktion zu beginnen: In einer instabilen Region dürften die Bedingungen für die Bildung eines riesigen Gasplaneten gegeben sein. Die Ergebnisse demonstrieren die Fortschritte, die die Astronomie bei der direkten Erforschung der Planetenentstehung macht.
Planeten wie unsere Erde entstehen in so genannten protoplanetaren Scheiben: riesigen Scheiben aus Gas und Staub rund um junge Sterne. In den letzten Jahrzehnten konnten die Astronomen solche Scheiben immer detaillierter erforschen. Aber es bleibt eine Herausforderung, herauszufinden, ob in einer solchen Scheibe bereits Planeten entstehen oder nicht. Nun hat eine Gruppe von Astronomen unter der Leitung von Kamber Schwarz (MPIA und Universität Arizona) den bisher erfolgreichsten Versuch der „Industriespionage“ in einer solchen Planetenfabrik veröffentlicht: Aus Beobachtungen der Scheibe um den jungen Stern ("T-Tauri-Stern") GM Aurigae mit dem ALMA-Observatorium, kombiniert mit Daten des ESA-Weltraumobservatoriums Herschel, fanden sie Hinweise darauf, dass der Kollaps in einer Region innerhalb der Scheibe bereits begonnen hat, und dass dort gerade ein riesiger Gasplaneten entstehen dürfte. Scheibe und Stern sind etwas mehr als 500 Lichtjahre von uns entfernt - gleichsam in unserer engeren Nachbarschaft.
Die Arbeit von Schwarz und ihren Kollegen ist Teil eines größeren Programms namens MAPS, "Molecules with ALMA at Planet-forming Scales", das von Karin Öberg geleitet wird, einer Astronomin am Center for Astrophysics | Harvard & Smithsonian (CfA). Öberg sagt: "Mit ALMA konnten wir sehen, wie die verschiedenen Moleküle dort verteilt sind, wo gerade neue Exoplaneten entstehen." Die neuen Ergebnisse wurden als Teil einer Sonderausgabe des Astrophysical Journal Supplement mit insgesamt 20 Artikeln aus dem MAPS-Programm veröffentlicht.
Das ALMA-Observatoriums arbeitet bei Millimeter- und Submillimeter-Wellenlängen und kann dabei nicht nur allgemein Moleküle aufzuspüren, sondern deren räumliche Verteilung in einer protoplanetaren Scheibe untersuchen. Diese Informationen zur Struktur waren für das, was Schwarz und ihre Kolleg*innen vorhatten, entscheidend.
Will man wissen, ob eine protoplanetare Masse instabil ist und sich entsprechend gerade Planeten bilden dürften, ist es wichtig, die Masse der Scheibe zu kennen. Der größte Teil der Masse der Scheibe besteht allerdings aus Wasserstoffmolekülen, H2. Solche Moleküle sind schwierig nachzuweisen, denn bei den vergleichsweise niedrigen Temperaturen einer protoplanetaren Scheibe geben sie so gut wie keine Strahlung ab.
In solchen Situationen versuchen die Astronomen, "Tracer-Moleküle" zu finden, also Moleküle, die einerseits charakteristische Strahlung aussenden und entsprechend einfach beobachtet werden können, und die man andererseits typischerweise gerade dort findet, wo auch molekularer Wasserstoff ist. Kann man Vorhandensein und Menge der Tracer-Moleküle aus den Beobachtungen ermitteln, kann daraus auf das Vorhandensein und die Menge des molekularen Wasserstoffs geschlossen werden.
Für eine protoplanetare Scheibe, wie in diesem Fall, ist ein eher ungewöhnliches Molekül mit der Bezeichnung HD, Wasserstoffdeuterid, ein besonders nützliches Tracer-Molekül. HD ist ein Molekül, das aus einem gewöhnlichen Wasserstoffatom (dessen Kern ein einzelnes Proton ist) und einem schweren Wasserstoffatom besteht – Deuterium mit einem Proton und einem Neutron im Atomkern.
HD ist chemisch identisch mit gewöhnlichem H2. Daher sollte man erwarten, dass HD und H2 immer in ungefähr demselben Verhältnis vorkommen, auch in einer protoplanetaren Scheibe. Im Gegensatz zu gewöhnlichem H2 kann HD aber durch Beobachtungen gut nachgewiesen werden, nämlich mit Hilfe der Ferninfrarot-Strahlung, die das Molekül beim Übergang zwischen zwei verschiedenen Rotationszuständen aussendet. Für die Scheibe um GM Aurigae hatte das auf Ferninfrarot- und Submillimeter-Beobachtungen spezialisierte Weltraumobservatorium Herschel der ESA diese charakteristische HD-Strahlung bereits beobachtet.
Die Strahlungsmenge hängt in solch einem Fall allerdings von zwei Faktoren ab: von der Menge der vorhandenen HD-Moleküle, aber auch von der Temperatur. Um die Menge an HD zu ermitteln und daraus die Masse von H2 in der Scheibe abzuschätzen, mussten Schwarz und ihre Kollegen deswegen zunächst die Temperatur in den verschiedenen Regionen der Scheibe rekonstruieren. Hier kam das MAPS-Programm mit seiner gründlichen Untersuchung einer Vielfalt von Moleküllinien ins Spiel.
Sowohl Atome als auch Moleküle senden charakteristische Strahlung in zahlreichen sehr schmalen Wellenlängenbereichen aus, die als "Spektrallinien" bezeichnet werden – konkret als "Emissionslinien", wenn Moleküle in diesen Bereichen Licht aussenden, beispielsweise weil sie durch Zusammenstöße mit anderen Molekülen angeregt werden. Bei Molekülen liegen solche Spektrallinien typischerweise im Infrarot- oder Submillimeter- bzw. Millimeterbereich des elektromagnetischen Spektrums. Moleküllinien im Submillimeter- bzw. Millimeterwellenbereich sind das Hauptziel der MAPS-Beobachtungen.
Wieviel Strahlung bei welcher charakteristischen Frequenz emittiert wird, hängt von der verfügbaren Energie ab, insbesondere von der Temperatur des betreffenden Molekülgases – mit steigender Temperatur werden neue Quantenzustände zugänglich, und die Hauptstrahlungsleistung verschiebt sich zu anderen Frequenzen. So nimmt zum Beispiel die Energie bestimmter Strahlungsarten von Kohlenmonoxidmolekülen mit der Temperatur ab und lässt sich daher wie ein natürliches "kosmisches Thermometer" nutzen.
Schwarz und ihre Kollegen fügten für ihre Arbeit all diese Informationen zusammen und erstellten mit ihrer Hilfe ein (achsensymmetrisches) physikalisches Modell für die protoplanetare Scheibe. Das Modell war detailliert genug, um die Verteilung von Gas und Staub sowie die unterschiedlichen Temperaturen zu reproduzieren. Die Forscher*innen passten ihre Modellparameter an, bis sie die bestmögliche Übereinstimmung mit den diversen Beobachtungen erreicht hatten – insbesondere mit der CO-Verteilung, der Temperaturverteilung, wie sie aus einem "kosmischen Thermometer" aus elf Emissionslinien von Kohlenstoffmonoxid hervorgeht, und die Daten des Weltraumobservatoriums Herschel für HD.
Das ergab die bisher beste Massenschätzung für eine protoplanetare Scheibe dieser Art, nämlich dass die Scheibe Material im Wert von 0,2 Sonnenmassen enthält – ein überraschend großer Wert. Die Scheibe ist vergleichsweise kalt, denn 32% der Masse sind kälter als 20 Kelvin (20 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt).
Mit Hilfe eines Parameters, dessen Wert die Stabilität oder Instabilität bestimmter Regionen einer solchen Scheibe angibt ("Toomre-Q-Parameter"), konnte die Gruppe außerdem zeigen, dass die meisten Regionen der Scheibe zwar stabil sind und nicht zu kollabieren drohen, es aber eine Ausnahme gibt: Innerhalb eines bestimmten Abstands vom Zentralstern – zwischen dem 70- und 100-fachen des Abstands Erde-Sonne – scheint das Scheibenmaterial an der Grenze zur Instabilität zu stehen. Die betreffende Region ist in Beobachtungen, die Strahlungsemissionen von Staub zeigen, als heller Ring sichtbar. Das Vorhandensein erheblicher Staubmengen schirmt diese Region von der Strahlung des Sterns ab, was wiederum zu niedrigeren Temperaturen führt, die den Gravitationskollaps begünstigen.
Alles in allem deutet die ausgeklügelte Industriespionage in einer potenziellen Planetenfabrik darauf hin, dass die Planetenproduktion dort bereits begonnen haben dürfte, wobei das wahrscheinlichste Produkt ein zukünftiger riesiger Gasplanet ist.
Um sicher zu sein, dass dort tatsächlich ein neuer Planet entsteht, sind jedoch weitere Beobachtungen erforderlich. Insbesondere würde man bei der Planetenbildung erwarten, dass eine bestimmte Teilregion des Rings kollabiert. Das physikalische Modell, auf dem die vorliegenden Schlussfolgerungen beruhen, ist jedoch achsensymmetrisch und modelliert die Scheibe lediglich als eine Ansammlung von Ringen. Damit lässt das derzeitige Modell insbesondere keine Bewegung des Gases innerhalb eines solchen Ringes zu – was aber wichtig zu wissen wäre, um entscheiden zu können, ob die richtigen Bedingungen für einen lokalen Kollaps und die anschließende Planetenbildung vorliegen.
Schwarz und ihre Kolleg*innen wollen als nächstes die Beschaffenheit der potenziell instabilen Region mit Hilfe eines anderen Teils der MAPS-Daten zu untersuchen: Bestimmte Eigenschaften der Spektrallinien, insbesondere die Breite des Wellenlängenbereichs einer gegebenen Linie, ermöglichen es den Forschern, die Geschwindigkeiten zu rekonstruieren, mit denen sich das Gas in der beobachteten Scheibenregion bewegt. Nimmt man diese Daten hinzu, sollte sich mit deutlich größerer Sicherheit beurteilen lassen, ob die Scheibe einen gerade neu entstehenden Planeten enthält oder nicht.
Die Ergebnisse werden jetzt als einer von 20 Artikeln mit MAPS-Ergebnissen in einer Sonderausgabe der Astrophysical Journal Supplement Series veröffentlicht. Insgesamt zeigen sie eindrucksvoll, wie weit die Astronom*innen bei der Erforschung der Anfänge der Planetenentstehung gekommen sind: von grob aufgelösten Beobachtungen junger Sterne hin zu detaillierten Abbildung der protoplanetaren Scheiben um sie herum, und jetzt eben zur Kartierung der verschiedenen Molekülarten in solchen Scheiben – mit den Ergebnissen zur Planeten-Produktion als schönes Beispiel für eine direkte Anwendung.