Das uralte Herz der Milchstraße

Die chemische Analyse von zwei Millionen roten Riesen identifiziert Sterne aus der Frühgeschichte unserer Galaxie

Im armen alten Herz unserer Milchstraße haben sich Sterne aus der frühesten Geschichte unserer Heimatgalaxie erhalten. Nun hat ein Team des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Astronomie Sterne des galaktischen Herzens identfiziert, die wegen ihrer frühen Entstehung noch relativ arm an schwereren Elementen als Wasserstoff und Helium sind. Die Forscher analysierten mihilfe künstlicher Intelligenz Daten der ESA-Mission Gaia und bestimmten so die chemischen Eigenschaften von zwei Millionen hellen Riesensternen rund um das Zentrum unserer Galaxie. Das Ergebnis passt gut zu den Vorhersagen kosmologischer Simulationen der frühesten Geschichte unserer Heimatgalaxie.

Die Geschichte der Milchstraße erstreckt sich über rund 13 Milliarden Jahre – unsere Heimatgalaxie ist also fast so alt wie das Universum. In den letzten Jahrzehnten ist es Astronominnen und Astronomen gelungen, verschiedene Epochen der galaktischen Geschichte zu rekonstruieren. Das Vorgehen ähnelt dabei der Art und Weise, wie die Archäologie die Geschichte einer Stadt erforschen: Für einige Gebäude gibt es eindeutige Baudaten. Bei anderen deuten die Verwendung primitiverer Baumaterialien oder ältere Baustile darauf hin, dass sie früher entstanden sind. Auch der Umstand, dass Überreste von Gebäuden unter anderen, neueren Bauwerken gefunden werden, gibt wichtige Anhaltspunkte. Nicht zuletzt sind räumliche Muster wichtig: In vielen Städten gibt es eine zentrale Altstadt, die von deutlich neueren Stadtteilen umgeben ist.

Die kosmische Archäologie bei Galaxien, und insbesondere bei unserer Heimatgalaxie, verläuft ganz ähnlich. Denn für fast alle Sterne erlaubt eine Art  Baustil zumindest ungefähre Rückschlüsse auf das Alter: die so genannte Metallizität eines Sterns, definiert als die Menge an chemischen Elementen, schwerer als Helium, in der Atmosphäre des Sterns. Solche Elemente, die in der Astronomie Metalle heißen, entstehen im Sterninneren durch Kernfusion und werden kurz vor oder am Ende des Lebens eines Sterns freigesetzt. Für leichtere Elemente ist das der Fall, wenn die Außenregionen eines massearmen Sterns in den Weltraum hinaus driften, für schwerere Elemente nur dann, wenn ein massereicher Stern als Supernova explodiert und einen beachtlichen Teil seiner Materie ins All schleudert. Solche Prozesse reichern das interstellare Gas mit schwereren Elementen an, und aus jenem Gas entsteht dann die nächste Generation von Sternen – jede Generation mit einer höheren Metallizität als die vorigen.

Wie große Galaxien allmählich wachsen

So wie Städte einen Bauboom oder intensive Umbauphasen durchlaufen können, wird die Geschichte von Galaxien durch Verschmelzungen und Kollisionen geprägt sowie durch große Mengen an frischem Wasserstoffgas, das über Milliarden hinweg von außen in eine Galaxie einströmen kann – das Rohmaterial, aus dem sich neue Sterne bilden. Ganz am Anfang der Geschichte einer Galaxie stehen dabei kleineren Proto-Galaxien: Raumregionen mit einer höheren als der durchschnittlichen Massendichte, in denen bereits vergleichsweise kurz nach dem Urknall Gaswolken kollabieren und Sterne bilden.

Stoßen solche Proto-Galaxien zusammen und verschmelzen miteinander, bildet sich eine größere Galaxie. Fügt man diesen etwas größeren Gebilden später noch eine weitere Proto-Galaxie hinzu, dann kann folgendes passieren: Fliegt jene weitere Proto-Galaxie nicht exakt auf das Zentrum ihres Kollisionspartners zu, sondern hinreichend weit seitlich versetzt, dann kann bei der Kollision rund um die ursprüngliche Galaxie eine Scheibe mit Sternen entstehen. Verschmelzen dagegen zwei bereits ausreichend große Galaxien, heizen sich ihre Gasreservoirs auf und bilden letztlich eine komplizierte elliptische Galaxie. Solche Geschichten von Galaxien lassen sich mit einer Kombination aus Beobachtungen und Simulationen rekonstruieren, am besten naturgemäß in unserer Heimatgalaxie.

Was kam vor den Jugendjahren unserer Milchstraße?

Die aktuelle archäologische Rekonstruktion der Geschichte der Milchstraße schließt an eine Untersuchung aus dem Frühjahr 2022 an. Damals hatten die Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix, Forscher am Max-Planck-Institut für Astronomie, Daten des ESA-Satelliten Gaia und der Spektraldurchmusterung LAMOST genutzt, um  die bewegte Jugend der Milchstraße vor 11 Milliarden Jahren ebenso zu rekonstruieren wie ihr anschließendes eher ereignisloses Erwachsenendasein.

Dabei fiel Xiang und Rix allerdings auf, dass die ältesten Sterne aus jener Jugendzeit bereits eine nicht allzu kleine Metallizität aufwiesen, nämlich rund zehn Prozent der heutigen Metallizität unserer Sonne. Offensichtlich musste es vor der Entstehung jener Sterne noch frühere Generationen von Sternen gegeben haben, die bei ihrem Ableben bereits schwere Elemente freisetzten. Die Existenz solcher früheren Sterngenerationen wiederum war keine Überraschung, denn genau solche früheren Generationen von Sternen zeigen auch aufwändige Simulationen der kosmischen Geschichte. Jene Simulationen sagen außerdem voraus, wo sich heute noch Vertreter jener früheren Sterngenerationen finden lassen sollten.

Konkret liefern diese Simulationen für die Anfänge dessen, was später unsere Milchstraße wurde, Szenarien mit drei oder vier Proto-Galaxien, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gebildet hatten, anschließend miteinander verschmolzen, und deren Sterne sich zu einem vergleichsweise kompakten Gebilde mit einem Durchmesser von nicht mehr als ein paar tausend Lichtjahren zusammenfanden. Dass später noch weitere Galaxien mit jener ursprünglichen Milchstraße verschmolzen, führte zur Entstehung weiterer Strukturen, insbesondere der Scheibenstruktur und des Halos. Aber die Simulationen legen nahe, dass ein Teil des ursprünglichen Kerns relativ unversehrt überlebte. Demnach sollte es möglich sein, Sterne aus dem anfänglichen kompakten Kern, dem uralten Herzen der Milchstraße, auch heute noch in und nahe den Zentralregionen unserer Galaxie zu finden – Milliarden von Jahren später.

Die Suche nach dem uralten Kern

Als Altersindikator nutzten die Forschenden nun die Metallizität, die es ermöglicht, Sterne in ältere und jüngere einzuteilen. Aufschluss über die Metallizität von vielen Millionen von Sternen liefern Spektren, die im Rahmen der Gaia-Mission aufgenommen wurden. Das Gaia-Weltraumteleskop lieferte umfassende Daten von mehreren Milliarden Sternen, unter anderem auch Entfernungs- und Bewegungsdaten Die Auflösung der von Gaia gemessenen Spektren reicht allerdings nicht, um die chemische Zusammensetzung von Sternatmosphären mit den üblichen Methoden zuverlässig bestimmen zu können. Doch mit Hilfe von künstlicher Intelligenz gelang dies Hans-Walter Rix mit René Andrae, einem auf Gaia-Daten spezialisierten Forscher am Max-Planck-Institut für Astronomie, vor – gemeinsam mit dem Gaststudenten Vedant Chandra, der von der Harvard University ans Heidelberger Max-Planck-Institut gekommen war. Die drei Forscher trainierten einen Algorithmus des maschinellen Lernens mithilfe bekannter Metallizitäten von Sternen so, dass er aus den Spektren die chemische Zusammensetzung genau herauslesen kann. 

Sie spezialisierten sich dabei auf rote Riesensterne in den Gaia-Daten – typische Rote Riesen sind so hell, dass sie sich auch auf die Entfernung des galaktischen Zentrums und seiner Nachbarschaft gut beobachten lassen. Zudem sind die spektralen Merkmale, anhand derer man die Metallizität bestimmen kann, bei Sternen dieses Typs vergleichsweise auffällig sind. So ermittelte der Algorithmus aus dem Daia-Datensatz exakte Werte für die Metallizitäten von zwei Millionen hellen Riesen in den inneren Regionen unserer Heimatgalaxie – der bislang größte Datensatz dieser Art. 

Mit Hilfe dieser Daten identifizierten sie dann auch das uralte Herz der Milchstraßengalaxie – eine Population von Sternen, die Rix wegen ihrer geringen Metallizität, ihres hohen Alters und ihrer zentralen Lage als armes altes Herz unserer Heimatgalaxie bezeichnet. Auf einer Himmelskarte konzentrieren sich diese Sterne um das galaktische Zentrum. Die von Gaia gelieferten Entfernungen ermöglichen zusätzlich eine 3D-Rekonstruktion, die zeigt, dass diese Sterne in der Tat vornehmlich in einer vergleichsweise kleinen inneren Region vorkommen, in Entfernungen von bis zu rund 15.000 Lichtjahren vom Zentrum.

Das Herz der Galaxie ist älter als 12,5 Milliarden Jahre

Diese Sternpopulation schreibt die frühere Studie von Xiang und Rix zu den Jugendjahren der Milchstraße direkt fort: Die Sterne im armen alten Herz haben genau die richtige Metallizität, um die gesuchten Vorgänger der metallärmsten jener Sterne zu sein, die später die dicke Scheibe der Milchstraße bildeten. Daraus wiederum folgt eine Altersabschätzung, denn die Entstehung der dicken Scheibe haben Xiang und Rix bereits mit der vorherigen Studie zuverlässig datiert: Das arme, alte Herz der Milchstraße muss älter sein als rund 12,5 Milliarden Jahre.

Weitere Analysen legen nahe, dass die Sterne im armen alten Herz direkt nach der Verschmelzung der ersten Proto-Galaxien zum ursprünglichen Kern der Milchstraße entstanden sind und nicht bereits in den Zwerggalaxien vorhanden waren, die den ursprünglichen Kern der Milchstraße bildeten oder in solchen, die später mit der Milchstraße verschmolzen. Das bestätigt, was kosmologische Simulationen über Frühgeschichte unserer Heimatgalaxie aussagen. Nun hoffen die Forschenden, dass sie die chemische Zusammensetzung von vielen weiteren Sternen bestimmen können und mit ihrer kosmischen Archäologie noch mehr über die Geschichte unserer Galaxie herausfinden.

MP/PH

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