Sollten strafrechtlich relevante Klimaproteste wie gewöhnliche Straftaten bestraft werden?
Die Übernahme von Verantwortung und ihre politische Motivation sollten bei der Strafzumessung als mildernder Umstand berücksichtigt werden
Teilweise werden Klimaaktivistinnen und -aktivisten nicht bestraft, da sie sich auf einen sogenannten Notstand, d. h. eine gegenwärtige Gefahr, berufen. Ivó Coca-Vila vom am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht argumentiert jedoch, dass ein solcher „Klimanotstand“ in rechtsstaatlichen repräsentativen Demokratien nicht als Rechtfertigungsgrund geltend gemacht werden kann. Allerdings sieht der Wissenschaftler eine Bestrafung als gewöhnliche Straftäterinnen und -täter auch nicht zwingend geboten. Stattdessen sollten die Übernahme von Verantwortung und die politische Motivation als mildernde Umstände berücksichtigt werden.
Immer häufiger begehen Klimaaktivistinnen und -aktivisten geringfügige Rechtsverstöße, um maximale Aufmerksamkeit auf ihre Klimaproteste zu lenken. Dabei ruft die Klimagerechtigkeitsbewegung – darunter z. B. die deutschen Initiativen Letzte Generation, Extinction Rebellion sowie Ende Gelände – teilweise ausdrücklich zu zivilem Ungehorsam bzw. Proteststrategien mit Zwangswirkung auf, um auf die katastrophalen Auswirkungen der globalen Erwärmung aufmerksam zu machen.
Vielfach streiten Klimaaktivistinnen und -aktivisten dabei ab, sich strafbar gemacht zu haben und berufen sich unter anderem auf einen rechtfertigenden Notstand bzw. übergesetzlichen entschuldigenden Notstand. In angloamerikanischen bzw. kontinentaleuropäischen Rechtssystemen wird eine Person in diesem Rahmen nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, wenn
- sie einer unmittelbar drohenden Gefahr ausgesetzt war
- die Straftat als geeignetes Mittel zur Abwendung dieser Bedrohung eingestuft werden kann
- das durch die Straftat verursachte Übel als (wesentlich) weniger schwerwiegend als das abgewendete Übel angesehen werden kann
- es keine angemessene gesetzliche Handlungsalternative gab
Bei Erfüllung dieser vier Voraussetzungen gelten die Taten selbst bei voller Schuldfähigkeit nicht nur als entschuldigt, sondern auch als gerechtfertigt. Mit dieser Argumentation waren Klimaaktivistinnen und -aktivisten zuletzt in einigen westlichen Ländern vor Gericht erfolgreich. So gab es in den letzten fünf Jahren in mehreren liberalen Demokratien – wie Deutschland, den USA, der Schweiz oder Frankreich – Freisprüche, die einen zuvor abgeschnitten geglaubten Weg gangbar gemacht haben.
Gründe gegen eine Rechtfertigung
Ivó Coca-Vila hält es – rein strafrechtlich gesehen – nicht für richtig, sich bei Klimaprotesten auf einen Notstand zu berufen. Selbst wenn man Klimaprotesten tatsächlich eine abschwächende Wirkung mit Blick auf die Auswirkungen der globalen Erwärmung zuschreibt, sollte dieser Rechtfertigungsgrund nicht als „Beschwichtigungswerkzeug“ gegenüber Gesetzgebern und Amtsträgern anerkannt werden, zumindest nicht in demokratischen Staaten mit einem begründeten Anspruch auf politische Autorität. In diesem Sinne müssen Straftaten im Rahmen von Klimaprotesten, die nicht unter die politischen Grundrechte fallen, als gesetzliches (Straf-)Unrecht betrachtet werden.
Gründe für eine Strafmilderung
Gleichzeitig argumentiert Coca-Vila jedoch, dass ziviler Ungehorsam in Form von Straftaten im Rahmen von Klimaprotesten nicht genauso behandelt werden sollte wie gewöhnliche Straftaten. Zwar sollten solche Taten grundsätzlich bestraft werden, aber es gebe gute Gründe, hier mildernde Umstände gelten zu lassen. Entsprechend sollten vor Gericht die besonderen Umstände der Straftaten von Klimaaktivistinnen und -aktivisten berücksichtigt und das Strafmaß entsprechend angepasst werden. Coca-Vila argumentiert, dass Klimaaktivistinnen und -aktivisten, deren Taten die klassischen Voraussetzungen zivilen Ungehorsams erfüllen – insbesondere durch Gewaltverzicht und öffentliches Auftreten – generell eine weniger harte Bestrafung verdienen als gewöhnliche Straftäterinnen und -täter.
Der sogenannte “Chilling Effect”, d. h. die abschreckende Wirkung, die in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip steht, legt bei Straftaten im Zusammenhang mit politischen Grundrechten (wie etwa der Versammlungsfreiheit oder dem Recht auf freie Meinungsäußerung) eine geringere Strafe nahe. „Schlechte Motive werden im Rahmen der meisten Strafgesetzgebungen als Erschwerungsgründe bei der Strafzumessung angesehen. Analog dazu könnten die guten Motive der Klimaaktivistinnen und -aktivisten als mildernde Umstände anerkannt werden, wenn sie dem begangenen Unrecht eine ganz andere Bedeutung zumessen als das bei einer Straftat der Fall wäre, hinter der klassische Motive stehen“, so Coca-Vila.