Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Softwaresysteme, Standort Saarbrücken

Das Finden von Nullstellen bei linearen Differentialgleichungen: ein offenes algorithmisches Problem in der Infinitesimalrechnung

Finding zeros of linear differential equations: an open algorithmic problem in calculus

Autoren
Ouaknine, Joël
Abteilungen

Max-Planck-Institut für Softwaresysteme, Standort Saarbrücken, Saarbrücken

Zusammenfassung
Wir stellen das algorithmische Problem der Feststellung vor, ob die Lösung einer gegebenen linearen Differentialgleichung eine Nullstelle enthält oder nicht (das „Nullstellen-Problem“). Dabei handelt es sich überraschenderweise um ein langjähriges offenes Problem, das tief in mehrere andere Bereiche der Mathematik hineinreicht. Wir berichten über einige unserer neuesten Fortschritte in diesem Bereich.
Summary
We introduce the algorithmic problem of determining whether the solution to a given linear differential equation has a zero or not (the Zero Problem). Somewhat surprisingly, this is a longstanding open problem, with deep connections to several other areas of mathematics. We report on some of our recent progress in this area.

Die Infinitesimalrechnung haben im 17. Jahrhundert Sir Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelt. Sie ist zweifellos eine der größten intellektuellen Errungenschaften der Menschheit. Bei der Infinitesimalrechnung handelt es sich nicht nur um einen Hauptbestandteil der meisten quantitativen Wissenschaften (und in vielen Teilen der Welt um ein Pflichtfach in der Schule!). Auch aus vielen Zweigen der Sozialwissenschaften wie Wirtschaft, Politikwissenschaft und Demografie ist sie nicht mehr wegzudenken. Daher mag es überraschen, dass aus algorithmischer Sicht einige der grundlegendsten Fragen der Infinitesimalrechnung bis heute ungeklärt bleiben.

Zur Verdeutlichung sei an den Begriff der linearen gewöhnlichen Differentialgleichung erinnert, die in der Technik und der Physik zu den grundlegenden und am häufigsten auftretenden Entitäten gehört. Lineare Differentialgleichungen sind geradezu allgegenwärtig. Beispielsweise kommen sie bei der Modellierung von elektrischen Schaltkreisen, Masse-Feder-Systemen und einfachen Pendeln vor. Solch eine Gleichung verbindet die verschiedenen Ableitungen einer Funktion f(t) in einer einzigen Variablen über eine lineare Gleichung mit konstanten Koeffizienten (typischerweise rationale Zahlen). Unter Berücksichtigung spezifischer Anfangsbedingungen, das heißt der Werte von f und ihren Ableitungen zum Zeitpunkt 0, lässt eine lineare Differentialgleichung eine eindeutige Lösung f(t) zu. Man kann dann verschiedene Fragen stellen, etwa ob f jemals verschwindet: Gibt es einen Zeitpunkt t, an dem f(t)=0 ist? Bis heute ist erschreckenderweise nicht bekannt, ob sich dieses zentrale Problem immer lösen lässt: fachsprachlich ausgedrückt, ob es entscheidbar ist.

Natürlich kann man in den meisten praktischen Fällen feststellen, ob eine bestimmte f verschwindet oder nicht, und außerdem den/die Wert(e) von t, für die f(t)=0 gilt, berechnen oder approximieren. Damit möchten wir sagen, dass derzeit kein allgemeiner Algorithmus bekannt ist, der immer die richtige Antwort liefert. Dies steht aber nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass sich Lösungen linearer Differentialgleichungen immer mit beliebiger Genauigkeit annähern lassen: Ob eine gegebene mathematische Funktion eine Nullstelle hat oder nicht, ist keine Frage der Approximation, sondern eine faktische, mathematische Behauptung, die entweder wahr oder falsch ist: Es ist unerheblich, ob sich eine Funktion bis auf ein Milliardstel oder ein Billionstel an die Null approximiert, ohne sie jemals zu erreichen, oder ob sie schnell ins Unendliche divergiert – in beiden Szenarien verschwindet die Funktion niemals. Eine nützliche Entsprechung ist hierbei womöglich die Aussage, dass die Zahl π irrational ist: Auch wenn sie sich durch die rationalen Zahlen p/q beliebig stark annähern lässt, entspricht π nie genau gleich einem Bruch p/q, wobei p und q ganze Zahlen sind.

In unserer jüngsten Arbeit [1] haben wir zwei wichtige Beiträge zu diesem Problem geleistet, sowohl einen positiven als auch einen negativen. Zunächst haben wir aufgezeigt, dass das „Nullstellen-Problem“ für lineare Differentialgleichungen der Ordnung 8 oder darunter[1] entscheidbar ist: Wir stellen einen Algorithmus bereit, der es in allen Fällen löst – mit dem Vorbehalt, dass die Garantie für die Fertigstellung unseres Verfahrens auf der Vermutung von Schanuel beruht. Diese handelt von einer weitreichenden und weithin geglaubten (jedoch noch nicht nachgewiesenen) vereinheitlichenden Hypothese in der transzendentalen Zahlentheorie. Anders ausgedrückt: Der von uns bereitgestellte Algorithmus liefert bei Fertigstellung garantiert immer die richtige Antwort (ob die Lösung der gegebenen Differentialgleichung eine Nullstelle hat oder nicht). Theoretisch könnte er jedoch, wenn sich die Vermutung von Schanuel als falsch herausstellt, bei bestimmten Fällen möglicherweise endlos laufen (und somit niemals eine tatsächliche Antwort erzeugen). Unser zweiter Beitrag ist wie folgt: Wir haben gezeigt, dass die Lösung des Nullstellen-Problems für lineare Differentialgleichungen der Ordnung 9 (oder höher) zwangsläufig große Durchbrüche in der Zahlentheorie (insbesondere der Diophantischen Approximation, einem völlig anderen Bereich der Mathematik) mit sich bringt. Dies bedeutet, dass eine vollständige Lösung des Nullstellen-Problems zwangsläufig grundlegende neue Erkenntnisse erfordert.

Was bringt die Zukunft? Das ist eine interessante Frage. Eine vollständige, positive Lösung des Nullstellen-Problems – das heißt ein bedingungsloser Nachweis der Entscheidbarkeit für alle Ordnungen – scheint beim gegenwärtigen Stand des Wissens in der Mathematik definitiv unerreichbar zu sein. Nichtsdestotrotz hält dies die meisten Physiker und Physikerinnen sowie Ingenieure und Ingenieurinnen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von einem ruhigen Schlaf ab, da effiziente Approximationsschemen existieren und allgemein verwendet werden. Eine faszinierende Möglichkeit besteht jedoch darin, dass das Nullstellen-Problem formal unentscheidbar ist: ein Begriff, den 1936 Alan Turing eingeführt hat, um zu zeigen, dass bestimmte algorithmische Probleme – wie das Halteproblem – sich nicht algorithmisch lösen lassen. Für mich persönlich wäre ein solches Ergebnis für das Nullstellen-Problem eine große Überraschung. Allerdings wäre ich nicht bereit, große Geldbeträge auf eine der beiden Alternativen zu setzen ...


[1] Die Ordnung einer Differentialgleichung ist der Wert der höchsten Potenz der in der Gleichung enthaltenen Ableitung. Beispielsweise ist eine Gleichung, die f zusammen mit ihrer ersten und zweiten Ableitung enthält, eine Differentialgleichung zweiter Ordnung.

Literaturhinweise

Ventsislav Chonev, Joël Ouaknine, James Worrell
Über die Nullstellen von Exponentialpolynomen
J. ACM 70(4): 26:1–26:26 (2023)
Alan M. Turing
Über berechenbare Zahlen, mit einer Anwendung auf das Entscheidungsproblem
J. of Math, 58(345–363), 5 (1936)

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