Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften
Altern im Kontext von Arbeitsmigration
Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen
Das zentralasiatische Hochgebirgsland ist besonders interessant für die Untersuchung des Alterns in einer mobilen Welt, da es eine enorm hohe Zahl an Arbeitsmigranten und -migratinnen hat. Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge, haben über 40 % aller Haushalte Tadschikistans ein Familienmitglied im Ausland. Die Geldüberweisungen tadschikischer Migranten und Migrantinnen in ihre Heimat machen mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus (im Jahr 2023 beispielsweise 48 %).[1] Kaum ein anderer Staat der Welt ist so stark von Kapitaltransfers auswärts lebender Bürger und Bürgerinnen abhängig wie Tadschikistan.
Viele junge Menschen verlassen nach dem Schulabschluss fast selbstverständlich das Land und kommen erst viele Jahre später zurück, in der Regel um zu heiraten und danach erneut abzureisen. Nicht wenige siedeln dauerhaft nach Russland um, wo der überwältigende Teil tadschikischer Migranten und Migrantinnen arbeitet. Die Mobilität junger Generationen wirkt sich entsprechend auf den Lebensalltag und Mobilität älterer Menschen in Tadschikistan aus.
Migrationsdynamiken und die Sorge für alternde Eltern
Die Arbeitsmigration setzte in Tadschikistan in den 1990er Jahren ein, als der Zusammenbruch der Sowjetunion und ein Bürgerkrieg das Wirtschaftssystem des heute rund 10 Millionen Einwohner zählenden Staates erschütterten. Zu Beginn waren es fast ausschließlich Männer, die in der Russischen Föderation nach Arbeit suchten und regelmäßig nach Hause zurückkehrten. Im Laufe der Zeit verschoben sich die Migrationsdynamiken hin zu mehrjährigen Aufenthalten und der Umsiedlung ganzer Familien nach Russland, von denen mittlerweile einige die russische Staatsangehörigkeit angenommen haben. So entfallen aufwendige und kostspielige bürokratische Prozeduren, die Arbeitsmigrant*innen erhalten Zugang zu besser bezahlten Arbeitsplätzen und reduzieren das Risiko von Diskriminierung und Ausbeutung. Auf der anderen Seite laufen sie Gefahr, zum Militärdienst einberufen und in den Ukrainekrieg verwickelt zu werden, den Russland seit Februar 2022 führt. Der Krieg gefährdet auch die Arbeitsplatzsicherheit der Arbeitsmigranten und Arbeitsmigratinnen, während die Abwertung des Rubels den Wert ihrer Geldüberweisungen in die Heimat verringert.
Wie beeinflusst die Mobilität der Kinder den Lebensalltag der Eltern? Familien in Tadschikistan sind mit häufig vier und mehr Kindern groß und Mehrgenerationenhaushalte weit verbreitet. Im Alter leben Eltern in der Regel mit einem ihrer Söhne, der sich mit seiner Ehefrau um sie kümmert und von anderen Geschwistern unterstützt wird. Ältere Generationen sind häufig darauf bedacht, Respekt gegenüber Menschen hohen Alters zu kultivieren und Moralvorstellungen wie die intergenerationellen Sorgepflichten hochzuhalten. Zusammengenommen tragen diese Faktoren dazu bei, dass trotz hoher Arbeitsmigration die Sorge für Ältere meist in den Händen der Familienmitglieder verbleibt,[2] denn die Eltern in ein Altersheim abzuschieben würde das Ansehen der Familie stark schädigen.
So leben ältere Menschen in Tadschikistan praktisch niemals allein und bekommen zudem regelmäßig Besuch von Kindern und Enkelkindern. Smartphones helfen, einen regen Kontakt über Grenzen hinweg aufrechtzuerhalten, während das Internet einen schnellen Geldtransfer aus dem Ausland ermöglicht. Durch das Teilen von Fotos, tägliche Videoanrufe und zügige Geldüberweisungen, etwa für Medikamente, Mobilfunkguthaben und Stromrechnungen, nehmen Eltern, Kinder und Enkelkinder trotz weiter Entfernungen am gegenseitigen Leben teil.
Die Wechselseitigkeit von Mobilität und Immobilität
Forschungen zur gestiegenen globalen Mobilität im 21. Jahrhundert haben gezeigt, dass Mobilität unter verschiedenen sozialen Gruppen nicht gleich verteilt ist und die Bewegung einer Person oder sozialen Gruppe die Möglichkeit einer anderen Person oder sozialen Gruppe, sich zu bewegen, sowohl fördern als auch einschränken kann.[3]
Diese Wechselseitigkeit lässt sich auch in Tadschikistan beobachten. Die Arbeitsmigration jüngerer Generationen erhöhte im Laufe der Zeit die transnationale Mobilität tadschikischer Senioren und Seniorinnen. Ziehen Kinder dauerhaft nach Russland, mobilisiert es die Eltern, sie dort zu besuchen. Es ist einerseits günstiger, andererseits drücken die Kinder damit ihre Zuneigung und Respekt gegenüber den Eltern aus.
Viele meiner Gesprächspartner und -partnerinnen zeigten sich beeindruckt von der Russlandreise: große Einkaufspassagen, Überfluss an Waren, niedrigere Preise, zentral beheizte Wohnungen und ein höherer Automatisierungsgrad. Auch gibt es viel Gelegenheit, sich mit der tadschikischen Diaspora zu sozialisieren, sodass nur wenige ihren Aufenthalt als langweilig beschreiben. Auf der anderen Seite fällt tadschikischen Senioren und Seniorinnen die geringere Wertschätzung älterer Menschen in der russischen Gesellschaft auf.
Eine andere Form transnationaler Mobilität von Senioren und Seniorinnen hängt mit der Arbeitsmigration zusammen. Das in Russland verdiente Geld ermöglichte einen Wohlstandsanstieg in Tadschikistan, der mitunter für Pilgerreisen nach Mekka genutzt wird. Die Wiederbelebung des Islam, kombiniert mit der Öffnung der Grenzen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, rückt den Haddsch als Ausdruck religiöser Identität ins Gesichtsfeld tadschikischer Muslime. Ein Großteil der Pilger und Pilgerinnen sind ältere Menschen, deren Reise teilweise oder ganz von den Kindern finanziert wird.
Arbeitsmigration mobilisiert jedoch nicht alle Personen gleichermaßen, und vor allem jungen Frauen bleibt transnationale Mobilität häufig vorenthalten, auch wenn ihr Ehemann in Russland arbeitet. Obwohl Arbeitsmigration mit der Zeit die restriktiven Geschlechterideale lockert, verlieren gerade Frauen ihre Mobilität, wenn ein Elternteil im Heimatland Pflege benötigt. Die Mobilität jüngerer Generationen wirkt sich somit nicht homogen auf andere soziale Gruppen aus. Während sie die transnationale Mobilität älterer Menschen im Verlauf des letzten Jahrzehnts eher förderte, schränkt sie unter Umständen die Mobilität von Frauen ein.