Quo vadis, Europa?
Frieden und Einheit durch wirtschaftliche Kooperation: Die Idee des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman ist 74 Jahre alt. Sein Vorstoß ist heute aktueller denn je. Deshalb haben wir vor der Europawahl Max-Planck-Forschende gebeten, Errungenschaften und Schwachstellen im System EU zu analysieren und ihre Ideen für ein starkes und prosperierendes Europa zu skizzieren.
Am 9. Mai wird jedes Jahr der Europatag gefeiert – mit vielen Veranstaltungen in 27 Mitgliedstaaten. Dass der Tag überhaupt im Bewusstsein ist, liegt an zehn Staats- und Regierungschefs der damals noch „kleinen“ Europäischen Gemeinschaft, in die Griechenland gerade aufgenommen war, aber Spanien und Portugal noch fehlten. 1985 beschlossen just jene Länderchefs auf ihrem Gipfel in Mailand, den Jahrestag der „Schuman“-Erklärung zu feiern. In Luxemburg, in dem Schuman als Sohn eines deutschen Zollbeamten und einer Luxemburgerin geboren wurde, ist es sogar ein gesetzlicher Feiertag.
Robert Schuman, damals französischer Außenminister, legte mit seiner Rede am 9. Mai 1950 den Grundstein für die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa, die Kriege in Europa – der zweite Weltkrieg lag gerade erst fünf Jahre zurück – verhindern und Wohlstand fördern sollte.
„Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist.“ (Robert Schuman, 9. Mai 1950)
Auf seine Initiative hin gründete sich wenig später die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl unter der Verwaltung einer Institution, die einen gemeinsamen Markt und politische Einheit schaffen sollte. Wie bedeutsam seine Idee in den Folgejahrzehnten werden sollte, konnte er kaum ahnen.
448 Millionen EU-Bürger, ein Staatenverbund
Heute zählt die EU 27 Mitgliedstaaten, 20 davon teilen eine gemeinsame Währung. Die Wirtschaftsleistung dieser Eurozone betrug 2022 mit gut 38.000 Euro je Einwohner (BIP pro Kopf) mehr als die Hälfte die der USA, der größten Volkswirtschaft der Welt – mit steigender Tendenz.
Das Europäische Parlament zählt aktuell 705 Abgeordnete und gehört zu den größten der Welt. Europäische Gesetze prägen den Alltag von rund 448 Millionen Menschen. Ob Onlineshopping, kostengünstige Retouren, verbilligtes Daten-Roaming oder Leben, Arbeiten und Forschen im Ausland: Die Errungenschaften eines gemeinsamen Marktes und gemeinsamer Grundfreiheiten bieten viele Vorteile.
Quo vadis, Europa?
Doch eine EU der 27 birgt auch Konflikte. Fragen zu Verteidigung, Migration, Bürokratie, sozialer Ungerechtigkeit, Demokratiedefizit oder mangelnder Handlungsfähigkeit sind einige von vielen Problemen, die eine neue Kommission gemeinsam mit Parlament und Rat ab Herbst angehen muss. Grund genug, um im Monat vor der Europawahl genauer hinzusehen: Wie geht’s dir, EU? Quo vadis, Europa? Max-Planck-Forschende verschiedener Disziplinen analysieren, wie es um Staatenverbund steht.
Greifen Schumans Ideen angesichts von Krisen und Kriegen ins Leere oder sind sie aktueller denn je? In loser Folge skizzieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Ideen für ein starkes, sicheres und wirtschaftlich erfolgreiches Europa.
Ideen für ein starkes Europa
Den Anfang macht Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Der Politologe untersucht den Regulierungsanspruch der EU-Institutionen.
Herausforderungen schultern
Wie stark sich die Union im Laufe ihrer Geschichte verändert hat, lässt sich deutlich am aktuellen Diskurs erkennen, wie sie zu reformieren sei. 20 Jahre ist es her, dass der Staatenverbund zehn neue Mitglieder auf einen Schlag aufnahm. Vor 25 Jahren führten elf Länder den Euro ein. 2023 stieß Kroatien als 20. Mitglied zur Eurozone dazu.
Welche Herausforderungen muss die EU schultern? Derzeit dreht es sich vor allem um diese Themen:
- Wie lässt sich die Handlungsfähigkeit der EU sicherstellen?
- Wie kann man demokratische Legitimität fördern?
- Was bedeutet eine Erweiterung der EU?
- Wie lassen sich Klimaziele umsetzen und gleichzeitig Wohlstand erhalten und steigern?
- Wie können Forschungsvorteile gesichert werden?
Wie sich die Fragen lösen lassen, erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit. Bedeutend sind dabei auch Erfahrungen aus der Praxis, wie der Bericht einer Tagung für europäisches Haushalts- und Sozialrecht zeigt.
EU als Wertegemeinschaft
So groß die politischen Anforderungen auch sein mögen, die Werte, auf denen die Union beruht, sind die Basis des gemeinsamen Zusammenwirkens. Es sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz. Die Einhaltung dieser Werte ist die Basis, ihre Wahrung wird durchgesetzt. Das zeigt die jüngste Entwicklung in Polen, dessen vorherige Regierung der PiS-Partei acht Jahre lang den Rechtstaat demontierte und nach dem Regierungswechsel wieder Zugang zu finanziellen Leistungen erhalten soll.
Was Europa ausmacht, wie Sicherheit und Wohlstand zu steigern ist, aber auch wie demontierte Rechtsstaatlichkeit wieder hergestellt wird, all das ist Europaforschung.
Ob Schumans Ideen heute noch so realisierbar wären, bleibt offen. Eine neue Kommission wird im Herbst 2024 ihre Arbeit aufnehmen und den gemeinsamen Kurs für die Mitgliedsstaaten skizzieren. Die „Kompromissmaschine“ wird wieder angeworfen und um politische Entscheidungen gerungen. Doch das macht die EU aus. Das wusste schon ihr „Vater“, wie Schuman oft tituliert wird. Er sah bereits Beitritte voraus und erkannte die wirtschaftlichen Vorteile bereits vor 74 Jahren.
Text: Michaela Hutterer
Hinweis: Der Beitrag vom 8. Mai wurde am 5. Juni aktualisiert und umdatiert.