Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie

Einblick in die Evolution des sozialen Lernens 

Peering into the evolution of social learning 

Autoren
Schuppli, Caroline
Abteilungen
Forschungsgruppe Entwicklung und Evolution von Kognition
Zusammenfassung
Die Evolution der menschlichen Kognition stellt nach wie vor eines der größten Rätsel der Evolutionsbiologie dar. Doch wird zunehmend deutlich, dass unsere Fähigkeit, von anderen Individuen zu lernen, eine entscheidende Rolle gespielt haben muss. Unsere Forschung zielt darauf ab, mit der Untersuchung des sozialen Lernens bei einem unserer engsten Verwandten, dem Orang-Utan, ein tieferes Verständnis dafür zu gewinnen, wie sich der menschenähnliche Wissenstransfer entwickelt hat.
Summary
Even though the evolution of human cognition has remained one of the biggest mysteries in Evolutionary Biology, it is becoming increasingly clear that our ability to learn from other individuals must have played a pivotal role. Our research aims to shed light on how human-like knowledge transmission evolved by studying social learning in one of our closest relatives, the orangutan.

Von allen evolutionären Prinzipien hat wohl keines den Menschen so weit gebracht wie die Regel "Zuschauen und Lernen". Die Fähigkeit, durch Beobachtung oder Austausch mit anderen zu lernen – bekannt als "soziales Lernen durch Beobachtung und Interaktion" – spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung unserer einzigartigen menschlichen Kognition. Das liegt daran, dass diese Form des sozialen Lernens es uns ermöglicht, komplexe Fertigkeiten effizient zu erwerben und damit die Entwicklung von Wissen und Fertigkeiten bei Individuen erheblich zu beschleunigen. Für unsere Vorfahren war die Fähigkeit, durch Beobachtung des Verhaltens anderer zu lernen, ein Überlebensvorteil und unterlag daher einer starken Selektion – was höchstwahrscheinlich die Entfaltung unseres einzigartigen kognitiven Potenzials begünstigte.

Beim modernen Menschen ist die Neigung andere aufmerksam zu beobachten und ihr Verhalten nachzuahmen, das „Abschauen bei anderen“, von frühester Kindheit an vorhanden. Doch wie hat sich diese Eigenschaft entwickelt? Glücklicherweise verbirgt sich die Antwort nicht gänzlich im Dunkeln: Unsere Forschungsgruppe richtet ihren Blick in unsere ferne Vergangenheit, um den Wissenstransfer bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, zu erforschen. Obwohl es zahlreiche Studien gibt, die zeigen, dass in Gefangenschaft lebende Menschenaffen in der Lage sind, sozial zu lernen, ist unser Ziel, dieses Phänomen in ihrer natürlichen Umgebung zu untersuchen, also dort, wo sich dieses in der Evolution entfaltet hat. Anders ausgedrückt: Wir erforschen auf natürliche Weise entstandene Populationen in freier Wildbahn.

Ein Fenster in die Vergangenheit

Unsere Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf Orang-Utans in den Regenwäldern Indonesiens. Orang-Utans sind die einzigen Menschenaffen in Asien und gelten als weniger gesellig als ihre Artgenossen. Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, das soziale Lernen bei einem Menschenaffen zu untersuchen, welcher als der am wenigsten gesellig angesehen wird. Doch gerade ihre Einzigartigkeit macht Orang-Utans so faszinierend. Ihr vielfältiges und komplexes Verhaltensrepertoire, kombiniert mit einem Lebensstil, der im Allgemeinen weniger gesellig ist, aber über Populationen hinweg bemerkenswert variiert, eröffnet uns die Möglichkeit, die äußersten Grenzen zu erkunden, wie natürliche Selektion auf soziales Lernen einwirken kann. 

In zwei unserer jüngsten Studien hat die Doktorandin Julia Mörchen das soziale Lernen in unseren beiden Studienpopulationen der wilden Sumatra- (Pongo abelii) und Borneo-Orang-Utans (Pongo pygmaeus wurmbi) untersucht. Die meisten Forschungen zum sozialen Lernen bei Menschenaffen, einschließlich unserer eigenen früheren Arbeiten, konzentrieren sich auf heranwachsende Individuen, die naturgemäß am meisten zu lernen haben. Wir haben jedoch den Forschungsschwerpunkt erweitert, indem wir uns gezielt auf erwachsene Männchen konzentrierten. Wir hoffen, mit der Untersuchung der Bedeutung des Transfers von sozialem Wissen im späteren Leben ein umfassenderes Verständnis für die Rolle des sozialen Lernens im Leben des Einzelnen letztlich auch für die evolutionären Faktoren zu gewinnen, welche dieses beeinflussen.

Ein erwachsener männlicher Orang-Utan führt ein nomadisches Leben, was immer wieder erhebliche Hindernisse für die Forschung mit sich bringt. Doch genau diese Lebensweise macht diese Gruppe zu einem ausgezeichneten Untersuchungsobjekt für das Studium des sozialen Lernens. Nach Erreichen der Geschlechtsreife verlassen die Männchen das Gebiet, in dem sie aufgewachsen sind. Sie durchstreifen dann entweder zwischen verschiedenen  Gebieten umher oder lassen sich in einem neuen nieder, das weit von ihren Ursprüngen entfernt liegt. Das bedeutet, dass Männchen, wenn sie sich in einem neuen Gebiet niederlassen, lernen müssen, wie sie die dortigen Ressourcen richtig nutzen und mit unbekannten Individuen interagieren können.    

Lebenslanges Soziales Lernen in freier Wildbahn

Als Indikator für soziales Lernen diente uns das Beobachtungsverhalten namens "Peering", eine Aktivität, bei der ein Individuum die Handlungen eines Artgenossen aus nächster Nähe aufmerksam und anhaltend beobachtet. Unsere Daten stammen von unseren Langzeit-Forschungsstandorten in Indonesien – Suaq Balimbing in Süd-Aceh und Tuanan in Borneo –, wo wir wilde Sumatra- bzw. Borneo-Orang-Utans untersuchen. Dank der Langfristigkeit dieser Projekte hatten wir Zugang zu mehr als zwei Jahrzehnten an Beobachtungsdaten. Dies ermöglichte es dem Team unter der Leitung von Dr. Caroline Schuppli, das Peeringverhalten sowie die täglichen Aktivitäten und Assoziationsmuster von über 150 Männchen zu verfolgen, viele von ihnen über mehrere Jahre hinweg. Nur mit solch umfassenden Daten können wir aufzeigen, wie individuelle Faktoren sowie die soziale und physische Umgebung das soziale Lernen bei dieser faszinierenden und schwer fassbaren Affenart beeinflussen.

In unserer ersten Studie entdeckten wir zahlreiche Hinweise darauf, dass zugewanderte Männchen während ihrer Ausbreitung neue ökologische und soziale Umgebungen durch Peering erkundeten. Die Männchen zeigten dieses Beobachtungsverhalten besonders häufig kurz nach ihrer Ankunft, wenn das Gebiet für sie noch unbekannt war. Mit zunehmender Verweildauer ging die Peering Aktivität zurück, vermutlich weil sie sich mit den lokalen Ressourcen und Individuen vertrauter fühlten. Die Männchen praktizierten Peering vor allem im Zusammenhang mit der Futteraufnahme, dem Nestbau und in sozialen Situationen, was darauf hindeutet, dass sie sich relevantes ökologisches Wissen und soziale Gewohnheiten aneignen mussten. Die bevorzugten Ziele der Männchen waren die einheimischen, lokal ansässigen erwachsenen Weibchen, da sie die Alters- und Geschlechtsklasse mit den besten Kenntnissen der Umgebung darstellten. Darüber hinaus beobachteten die Männchen bevorzugt Nahrungsmitteln, die im Gebiet selten vorkamen, sowie solche, die vor dem Verzehr eine aufwändige orale und manuelle Verarbeitung erforderten. Unsere Ergebnisse legen auch nahe, dass die Männchen  das  während des Beobachtens Gelernte selektiv anwenden.

In unserer zweiten Studie untersuchten wir, wie sich die ökologischen Bedingungen auf die sozialen Lerngelegenheiten der Orang-Utan-Männchen auswirken, das heißt, wie oft sie sich in Peering-Distanz zu einem anderen Individuum befinden, und auf ihre Neigung, diese Gelegenheiten zu nutzen, also ob sie tatsächlich Peering-Verhalten zeigen, wenn sie sich in der Nähe eines anderen Individuums befinden. Dabei stellten wir fest, dass die Verfügbarkeit von Nahrung im jeweiligen Lebensraum das Peering auf verschiedenen Ebenen beeinflusst.

Die sozialeren Orang-Utans in Sumatra, wo Nahrung reichlicher vorhanden ist, zeigten auffälligerweise häufiger das Peering-Verhalten als ihre Artgenossen in der weniger geselligen Population in Borneo, wo Nahrung knapper ist. Interessanterweise blieben diese Unterschiede im Peering-Verhalten zwischen den beiden Populationen bestehen, selbst nachdem wir die Unterschiede in der Verfügbarkeit von Nahrung im Lebensraum und sozialen Gelegenheiten zu Peeren berücksichtigt hatten. Dies deutet darauf hin, dass sich die Individuen der beiden Populationen grundsätzlich in ihrer Neigung unterscheiden, Gelegenheiten zum sozialen Lernen wahrzunehmen. Allerdings konnten wir in unserer Studie nicht eindeutig feststellen, ob diese Unterschiede eine angeborene, intrinsische Eigenschaft der beiden Orang-Utan-Arten sind oder das Ergebnis unterschiedlicher sozialer und ökologischer Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind.

Zweitens haben wir festgestellt, dass das Peering-Verhalten in beiden Populationen zunahm, je mehr Zeit Männchen in nahem Kontakt zu anderen Individuen verbrachten. Auffallend war, dass selbst unter Berücksichtigung der Zeit, welche die Individuen in enger Nähe zueinander verbrachten, der positive Effekt der vorherrschenden Nahrungsverfügbarkeit auf das Peering-Verhalten bestehen blieb. Dies deutet darauf hin, dass die Nahrungsverfügbarkeit nicht nur die Möglichkeiten des sozialen Lernens durch räumliche Distanzierung beeinflusst, sondern auch die eigentliche Neigung der Individuen, soziale Informationen aufzunehmen.

Tief verwurzeltes soziales Lernen

Insgesamt liefern diese Ergebnisse weitere Hinweise darauf, dass das soziale Lernen durch Beobachtung tief im Leben des am wenigsten geselligen aller Menschenaffen verwurzelt  ist. Dies deutet darauf hin, dass diese fundamentale Fähigkeit älter ist als unser letzter gemeinsamer Vorfahre, der vor etwa 13 Millionen Jahren lebte. Darüber hinaus könnte das Erlernen einer neuen Umgebung durch Beobachtung lokaler Individuen, während den Migrationsphasen des Menschen eine entscheidende Rolle gespielt und zur erfolgreichen Besiedlung des Planeten durch unsere Spezies beigetragen haben. 

Auf individueller Ebene könnte dies dazu geführt haben, dass starker Selektionsdruck auf die Fähigkeit entstanden sind, durch Beobachtung anderer Individuen zu lernen. Das soziale Lernen durch Beobachten und andere Formen des sozialen Lernens, die eine hochwertige Informationsübertragung ermöglichen, könnten eine Kaskade von selektivem Druck auf die Evolution fortschrittlicher kognitiver Fähigkeiten ausgelöst haben. Denn diese Art der sozialen Übertragung führt zu einer effizienteren Umsetzung des kognitiven Potenzials in Fähigkeiten und Wissen, die für das Überleben eines Individuums relevant sind. Die Tatsache, dass die Verfügbarkeit von Nahrung die Möglichkeiten und Neigungen zum sozialen Lernen beeinflusst, legt nahe, dass günstige ökologische Bedingungen diesen Prozess verstärken können.   

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