„Unterschätzt die europäischen Verträge nicht!“

Warum wir keine Vertragsreform zum Schutz europäischer Werte brauchen. Ein Meinungsbeitrag von Dimitri Spieker vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg

Seit einiger Zeit geht ein vertrautes Raunen durch den europäischen Diskurs. In den Meinungsspalten der Medien, in den Foren der Fachleute, in den Kabinetten mitgliedstaatlicher Regierungen, auf den Korridoren der Kommission, überall wird das lange nicht gehörte Wörtchen gewispert: Vertragsreform. Nach dem Kraftakt von Lissabon schien die Ausdauer erschöpft, der Appetit für weitere Reformen der Verträge gestillt. Angesichts möglicher Erweiterungsrunden im Osten Europas scheint sich der totgeglaubte Reformwille jedoch wieder zu regen.

Ein Meinungsbeitag von Dimitri Spieker

Eine Reihe von Vorschlägen, etwa vom Europäischen Parlament und von einer deutsch-französischen Expertenkommission, liegt bereits vor. Allen ist gemein: die EU soll fit für die neue geopolitische Lage, insbesondere für Erweiterungsoptionen gemacht werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Grundwerte gelegt, wie sie in Artikel 2 der EU-Verträge niedergelegt sind: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Diesen Schutz zu stärken liegt nahe, bedenkt man, dass die Abkehr einiger Mitgliedstaaten von eben jenen Grundwerten, wie zuletzt in Polen, aber in Ungarn oder Rumänien, eine existenzielle Bedrohung für den Zusammenhalt der Union darstellt.

Dabei schwirren viele Ideen durch den Raum, wie die Reaktionen der EU auf mögliche Wertverstöße verbessert werden könnte. Doch sie alle leiden an zwei gegenläufigen Mängeln: Realitätsferne und Fantasielosigkeit.

Realitätsferne: Wenn das Wörtchen „Wert“ nicht wär…

Einerseits wird gefordert, das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages zu reformieren. Danach kann der Rat Wertverstöße in einem Mitgliedstaat feststellen und sanktionieren, etwa mit einer Suspendierung von Stimmrechten oder einem Einfrieren von EU-Geldern. Dieses Verfahren bezeichnete der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso 2012 als „nuclear option“. Es stellte sich in der Realität jedoch als zahnlos heraus, denn ein Wertverstoß kann nur einstimmig festgestellt werden.

Daher überrascht es nicht, dass die gegen Polen und Ungarn eingeleiteten Verfahren nie zum Abschluss gebracht werden konnten. Diese Hürde soll durch den Wechsel von Einstimmigkeit zum Mehrheitsprinzip überwunden werden (S. 17 hier und Rn. 18 hier). Das Problem: Vertragsänderungen können nur einstimmig erfolgen und bedürfen daher der Zustimmung von konsensunwilligen Mitgliedstaaten wie Ungarn. Jede Reform, die das Wörtchen „Wert“ auch nur erahnen lässt, wird an diesem Erfordernis scheitern.

Fantasielosigkeit: Die bestehenden Verträge nicht unterschätzen

Andererseits leidet die Debatte an einer massiven Unterschätzung des Potentials, das im bestehenden Vertragswerk schlummert. Ein Beispiel für eine solche Unterschätzung ist die Prager Rede von Olaf Scholz an der Karls-Universität im August 2022. Darin forderte er: „… wir sollten der Kommission einen neuen Weg eröffnen, Vertragsverletzungsverfahren auch dann einzuleiten, wenn gegen das verstoßen wird, was uns im Kern zusammenhält, gegen unsere Grundwerte“. Einen neuen Weg?

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in einem wegweisenden Urteil klargestellt, dass die in Artikel 2 EUV niedergelegten Werte „keine bloße Aufzählung politischer Leitlinien oder Absichten“ darstellen, sondern „rechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten beinhalten.“ Auf dieser Spur hat die Europäische Kommission im Juli 2022 ein Verfahren gegen Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der Verletzung von LGBTIQ*-Rechten eingeleitet. Dabei stützt sich die Kommission auf eine Verletzung der gemeinsamen Werte. Was Scholz noch als Wunsch formulierte, ist also bereits gelebte Praxis.

Spielräume konsequent nutzen

Das bedeutet im Kern: Eine Vertragsänderung zum besseren Schutz europäischer Werte ist kaum realistisch. Dies ist aber kein Grund zu verzagen. Denn das bestehende Vertragswerk ist wesentlich robuster, als vielfach angenommen wird und erlaubt rasche Reaktionen auf neue Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund brauchen wir eine entschlossene und kreative Anwendung der bereits bestehenden Instrumente sowie eine Verbesserung des Werteschutzes á droit constant – das heißt nicht unter Änderung, sondern auf Basis der bestehenden Verträge.

Wie zerbrechlich ist unsere Demokratie?

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Wie genau sieht nun der aktuelle Werkzeugkasten der Union aus? Derzeit erlaubt das Unionsrecht ein Vorgehen zum Schutz der gemeinsamen Werte auf drei Ebenen von der Ermittlung über die Feststellung bis zur Sanktion. So hat die Kommission aufwändige Monitoring-Prozesse entwickelt, beispielsweise den jährlichen Rechtsstaatlichkeitsbericht oder das EU-Justizbarometer. Diese werden auf Grundlage zahlreicher Eingaben unterschiedlicher, auch zivilgesellschaftlicher Akteure erarbeitet und erlauben die frühzeitige Ermittlung möglicher Wertverstöße in den Mitgliedstaaten. Sofern eine solche Gefahr identifiziert ist, kann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten und den Gerichtshof ersuchen, einen Verstoß gegen die gemeinsamen Werte festzustellen. Weigert sich ein Mitgliedstaat, ein solches Urteil zu befolgen und den festgestellten Verstoß abzustellen, können die europäischen Institutionen den Mitgliedstaat durch das Einfrieren von EU-Geldern zum Einlenken bewegen. Im Rahmen der so genannten Konditionalität kann die Auszahlung von EU-Mitteln von dem Erreichen bestimmter „Milestones“ abhängig gemacht werden, zu denen auch die Umsetzung von Urteilen europäischer Gerichte zählen kann. Wie der Fall Polen und Ungarn belegen, ist dies ein scharfes Schwert.

Gleichwohl könnte das Schwert schlagkräftiger werden. Verbesserungsbedarf besteht in drei Bereichen. Erstens ist eine bessere Verzahnung dieser drei Ebenen erforderlich. Derzeit stehen sie unverbunden nebeneinander und nicht in einer klaren zeitlichen Abfolge. Zweitens bedarf es einer größeren Transparenz. Insbesondere die Entscheidungen über das Einfrieren und die Freigabe von EU-Mitteln erfolgen in recht undurchsichtigen Verfahren, was den Vorwurf zwielichtiger „Deals“ mit dem Veto-freudigen Mitgliedstaaten aufkommen lässt. Drittens müssen wir begreifen, dass der Schutz europäischer Werte weit über die Rechtsstaatlichkeit hinausgeht. Wir brauchen daher einen breiteren Fokus, der auch Gefahren für Demokratie und Menschenrechte, eine freie Zivilgesellschaft, Presse und Wissenschaft erfasst. Die EU hat bereits vielversprechende Rechtsakte vorgelegt, so etwa die Anti-SLAPP Richtlinie, die Regierungskritiker besser vor Einschüchterungsversuchen schützen soll, oder der European Media Freedom Act zum Schutz unabhängiger Medien.

Weitere Schritte in diese Richtung sind erforderlich – und unter dem bestehenden Vertragswerk möglich!

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