"Nächstes Jahr werden wir das Higgs-Teilchen sehen - oder seine Existenz ausschließen"
Ein Interview mit Siegfried Bethke vom Münchner Max-Planck-Institut für Physik über die aktuellen Forschungsergebnisse am Large Hadron Collider (LHC) in Genf
Ein Interview mit Siegfried Bethke vom Münchner Max-Planck-Institut für Physik über die aktuellen Forschungsergebnisse am Large Hadron Collider (LHC) in Genf
Professor Bethke, seit zwei Jahren kollidieren am LHC Teilchen miteinander, fast eine Billiarde Zusammenstöße haben die Detektoren inzwischen registriert. Was ist dabei herausgekommen?
Bethke: Wir haben intensiv gesucht, zuvor unbekannte Teilchen konnte der LHC allerdings noch nicht entdecken. Auch Effekte, die auf neue Theorien oder gar eine neue Physik hindeuten würden, sind bislang ausgeblieben.
Das klingt ernüchternd.
Bethke: Es ist in der Tat ein klein bisschen enttäuschend, aber es kommt nicht unerwartet. Wir wussten von Anfang an, dass wir immens viele Kollisionen für eine aussagekräftige Statistik brauchen werden. Deshalb soll der LHC ja nicht nur zwei Jahre, sondern zehn oder 20 Jahre lang laufen. Insgeheim haben wir dennoch gehofft, dass die Natur schon früher eine Überraschung für uns bereit halten wird. Doch auch ohne die sind bislang weit mehr als 100 wissenschaftliche Veröffentlichungen publiziert worden.
Worüber denn, wo Sie doch nichts entdeckt haben?
Bethke: Selbst wenn man nichts findet, lassen sich Ausschlussgrenzen für die gesuchten Phänomene angeben – zum Beispiel für die supersymmetrischen Quarks, deren Existenz das bisherige Modell der Teilchenphysik erweitern würde. Von denen wissen wir jetzt, dass sie mindestens 1000-mal so schwer wie Protonen sein müssen. Das klingt zunächst langweilig, ist aber sehr interessant für Physiker und für die Formulierung neuer Theorien. Zudem haben wir den LHC wie geplant dazu genutzt, das aktuelle Standardmodell der Elementarteilchen zu überprüfen.
Was gibt es da zu überprüfen?
Bethke: Wir wissen, dass das Standardmodell nicht die letzte Antwort der Natur sein kann. Es hat zu viele offene Fragen, es ist weit von einer Weltformel entfernt. Besonders bei hohen Energien erwarten wir Abweichungen. Diese Bereiche können wir am LHC nun erstmals testen.
Und, haben Sie das Modell bereits widerlegt?
Bethke: Im Gegenteil, bislang passen die Messergebnisse selbst bei hohen Energien sehr gut zu den theoretischen Vorhersagen. Das ist natürlich schön für das Standardmodell, aus Sicht einer neuen Physik ist es aber beinahe eine Enttäuschung.
Was ist mit dem mysteriösen Higgs-Teilchen, das im gegenwärtigen Modell dafür verantwortlich sein soll, dass Elementarteilchen zu ihrer Masse kommen. Bislang hat es niemand gesehen.
Bethke: Auch wir haben noch kein eindeutiges positives Signal entdeckt. Wir können aber bereits viele Bereiche ausschließen, so dass dem Higgs-Teilchen nur noch wenige Ecken bleiben, in denen es sich verstecken kann. Bei diesen Energien wollen wir kommendes Jahr verstärkt suchen. Es wäre ein Triumph, wenn wir das Teilchen finden.
Und wenn nicht, wäre es eine große Niederlage?
Bethke: Nein, auf keinen Fall. Wenn wir auf Basis unserer Messungen definitiv ausschließen können, dass das Higgs-Boson existiert, wäre das sogar eine Revolution. Wir müssten das Standardmodell über den Haufen werfen. Theoretiker müssten nach einer alternativen Theorie suchen, die die Welt im Kleinsten schlüssig beschreiben kann. Das wäre wesentlich aufregender, als das Higgs-Teilchen einfach zu bestätigen.
Wann werden Sie Gewissheit haben?
Bethke: Der LHC läuft seit über einem Jahr unerwartet gut und gibt uns mehr Daten, als wir selbst unter optimistischen Annahmen gedacht hätten. Wenn das so weiter geht, werden wir spätestens Ende nächsten Jahres das Higgs-Teilchen gesehen haben – oder seine Existenz ein für alle Mal ausschließen können.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Alexander Stirn.