Das energiereichste Neutrino aus dem All
Das Neutrino-Observatorium KM3Net liegt in den Tiefen des Mittelmeers und misst ein kosmisches Neutrino bei bisher höchsten Energien
Im Mittelmeer haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter auch Astronomen des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie in Bonn, mit dem KM3NeT-Neutrino-Teleskop ein kosmisches Neutrino mit einer Energie von etwa 220 PeV entdeckt. Es ist das energiereichste Neutrino ist, das je beobachtet wurde. Diese Entdeckung ist der Beweis dafür, dass Neutrinos mit solch extremen Energien im Universum erzeugt werden. Supermassereiche schwarze Löcher in den Tiefen des Universums könnten die Ursache für extrem schnelle und extrem energiereiche kosmische Teilchen sein.

In den Daten des kilometergroßen Neutrinoteleskops KM3NeT hat eine internationale Kollaboration, darunter auch Astronomen des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie in Bonn, am 13. Februar 2023 ein Neutrino bei Rekordenergien gemessen. Die Energie des Signals ist 16.000 Mal größer als die stärkste Teilchenkollisionen, die Forschende auf der Erde mit dem Large Hadron Collider am Cern nachempfunden haben.
Auf der Jagd nach den Geisterteilchen

Neutrino-Ereignisses. Die Farben geben das Licht an, das von den Detektor-"Augen" auf jedem Modul gesehen wird, wobei die verschiedenen Farben unterschiedliche Beobachtungszeiten darstellen. Die nahezu horizontal verlaufende rekonstruierte Spur des Teilchens ist als Linie von links nach rechts dargestellt.
Neutrinos gehören zu geheimnisvollsten Elementarteilchen - sie haben keine elektrische Ladung und fast keine Masse. "Sie sind besondere kosmische Boten, die die Geheimnisse der energiereichsten Phänomene im Universum lüften", fügt Rosa Coniglione, stellvertretende Sprecherin von KM3NeT zum Zeitpunkt der Entdeckung und Forscherin am INFN in Italien, hinzu. Da Neutrinos zudem kaum mit Materie wechselwirken, nutzt das KM3NeT Teleskop Meerwasser als Detektorvolumen - bald sollen es mehrere Kubikkilometer werden. Reagiert ein kosmisches Neutrino, mit den Atomkernen des Meerwassers, können Myonen erzeugt werden. Myonen sind schwerer als Elektronen aber tragen ebenfalls eine einfache negative Ladung. Das Myon erfährt bei dieser Reaktion so viel Bewegungsenergie, dass es einen Lichtkegel erzeugt, während es das Meerwasser durchpflügt. Dieses Cherenkov-Licht ist vergleichbar mit dem Überschallknall, den ein Düsenjet bei hoher Geschwindigkeit in der Atmosphäre erzeugt. Das Neutrinoteleskop besteht aus 230 parallel liegenden Strings, an denen wie Perlen an einer Kette jeweils 18 optische Module befestigt sind. In jedem Modul sitzen 31 sogenannte Photomultiplier, die schwaches Licht aus allen Richtungen einfangen und verstärken - so auch das Licht, das nach einer Kette von Reaktionen erzeugt wird, an deren Spitze ein kosmisches Neutrino stand.
Mit KM3NeT werden nun Neutrinos aus extremen astrophysikalischen Ereignissen nachgewiesen und dabei bisher unerforschte Energiebereiche untersucht. "Dieser erste Nachweis eines Neutrinos im Bereich von Hunderten von PeV eröffnet ein neues Kapitel in der Neutrinoastronomie", sagt Paschal Coyle, KM3NeT-Sprecher zum Zeitpunkt des Nachweises und Forscher am IN2P3/CNRS in Frankreich. Ein Petaelektronenvolt (PeV) entspricht dabei 1015 oder einer Billiarde Elektronenvolt.
Woher kommt das Rekordneutrino?
Die zentrale Frage ist, woher die hochenergetischen Teilchen kommen, die die Erde treffen und in ihrem Ozean oder ihrer Atmosphäre reagieren. "Durch die Kombination mit anderen Teleskopen versuchen wir, eine Verbindung zwischen der Beschleunigung der kosmischen Strahlung, der Produktion von Neutrinos und der Rolle supermassereicher Schwarzer Löcher herzustellen", sagt Yuri Kovalev am Max-Planck-Institut für Radioastronomie. Neben der Umgebung von den Riesen unter den bekannten schwarzen Löchern, zählen auch Supernovaexplosionen zu möglichen leistungsstarken kosmischen Teilchenbeschleunigern. Das nun gemessene hochenergetische Neutrino könnte direkt aus einem solchen Beschleuniger stammen, oder es könnte der erste Nachweis eines kosmogenen Neutrinos sein. Kosmogene Neutrinos könnten entstehen, wenn andere kosmische Teilchen mit dem schwachen Licht des kosmischen Hintergrunds reagiert und dabei extrem energetische Neutrinos erzeugt. Da hier jedoch nur ein einziges Ereignis bei hunderten PeV gemessen wurde, bleibt der Ursprung ungewiss. Um mehr zu erfahren, müssen die Forscherinnen und Forscher mehr solcher Ereignisse nachweisen.
Hochenergetische Teilchen aus dem All sind nichts Neues
Auch ein etwas kleineres Neutrinoteleskop selber Machart, Antares, hat energiereiche Neutrinos aus dem All gemessen. Und Es gibt eine Reihe weiterer kreative Experimente, die das Teilchenbombardement aus dem All eingefangen haben. So wie etwa das Pierre-Auger-Observatorium in Argentinien, das ebenfalls Cherenkov-Strahlung misst. In diesem Fall sind die Initiatoren unter den kosmischen Teilchen aber Protonen, die auf die Erdatmosphäre treffen und in dieser Kaskaden von Sekundärteilchen lostreten. Die Myonen, die dabei entstehen, werden aber nicht etwa in Meerwasser nachgewiesen, sondern in über 1600 Wassertanks, die in der Pampa Argentiniens verteilt stehen.
BEU
Weitere Informationen
Die KM3NeT-Kollaboration vereint mehr als 360 Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Studenten von 68 Institutionen aus 22 Ländern auf der ganzen Welt.
KM3NeT hat zwei Detektoren: ARCA bei Sizilien und ORCA bei Toulon in Frankreich. Der ARCA-Detektor hat 230 Einheiten, während der ORCA-Detektor 115 Einheiten hat. Die ARCA-Einheiten sind 700 m hoch und 100 m voneinander entfernt, während die ORCA-Einheiten 200 m hoch und 20 m voneinander entfernt sind. Jede Einheit enthält 18 optische Module mit 31 Photomultipliern. Die Daten werden über ein Unterseekabel an die Landstationen des INFN Laboratori Nazionali del Sud in Portopalo di Capo Passero und des Laboratoire Sous-marin Provence Méditerranée in La Seyne-sur-Mer gesendet.
An der veröffentlichten Studie waren folgende Institutionen in Deutschland beteiligt: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit den Wissenschaftlern M. Chadolias, Y. Darras, A. Domi, T. Eberl, T. Gal, N. Geißelbrecht, R. Gracia, K. Graf, C. Haack, L. Hennig, O. Kalekin, U.F. Katz, C. Kopper, R. Lahmann, J. Schnabel, J. Schumann, B. Setter, H. Warnofer, und S. Weissbrod; Max-Planck-Institut für Radioastronomie mit Y.Y. Kovalev, A. Plavin und E. Ros; sowie die Julius-Maximilian-Universität Würzburg mit S. Buson (auch Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY), M. Lincetto und L. Pfeiffer.
MuSES, eine Abkürzung für „Multi-messenger Studies of Energetic Sources“, ist eine bahnbrechende Initiative in der Astrophysik. Sie widmet sich der Untersuchung aktiver galaktischer Kerne (AGN), die zu den stärksten bekannten Teilchenbeschleunigern im Kosmos gehören. Das MuSES-Projekt wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms "Horizont Europa" der Europäischen Union gefördert (Finanzhilfevereinbarung Nr. 101142396) und wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten und Meinungen der Europäischen Union oder des ERC wider. Weder die Europäische Union noch der ERC können für sie verantwortlich gemacht werden.