Unterschiedliche Gehirnentwicklung bei Neandertalern und modernen Menschen
Anthropologen in Leipzig haben Speziesunterschiede im Entwicklungsmuster des Gehirns entdeckt, die vermutlich zu kognitiven Unterschieden zwischen modernen Menschen und Neandertalern beitragen
Ob es zwischen Neandertalern und modernen Menschen Unterschiede in geistigen und sozialen Fähigkeiten gab, ist eines der großen Streitthemen in der Anthropologie und Archäologie. Da Neandertaler und moderne Menschen ähnlich große Gehirne hatten, waren Forscher bisher davon ausgegangen, dass auch die kognitiven Fähigkeiten dieser Spezies ähnlich waren. Bei lebenden Menschen ist aber die innere Struktur des Gehirns wichtiger für Intelligenz als dessen Größe. Dieses Muster der Vernetzung im Gehirn wird in den ersten Lebensjahren angelegt. Anhand von Abdrücken des Gehirns in den Schädelknochen (sogenannte Endocasts) untersuchten Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig die Gestaltveränderung des Gehirns von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Das Wachstumsmuster der modernen Menschen unterscheidet sich von dem der Neandertaler im ersten Lebensjahr, einer kritischen Phase für die kognitive Entwicklung. (Current Biology, 9. November 2010)
Diskussionen über die kognitiven Fähigkeiten unserer fossilen Vorfahren oder Verwandten drehen sich meist um archäologische Funde und Schädelvolumen. "Die Interpretation der archäologischen Funde bleibt umstritten, und die Schädelkapazitäten der Neandertaler und der modernen Menschen waren sehr ähnlich", sagt Jean-Jacques Hublin, der Direktor der Abteilung für Humanevolution am MPI-EVA in Leipzig. "Viele archäologische Befunde deuten auf Unterschiede im Verhalten zwischen modernen Menschen und Neandertalern hin. Unsere Ergebnisse zeigen, welcher biologische Mechanismus dem zugrunde liegen könnte."
Da Gehirne nicht versteinern, kann man bei Fossilien nur den Innenabdruck des Gehirns und seiner umgebenden Strukturen im Schädel untersuchen. Zuerst werden mittels Computertomographie (CT) hochauflösende dreidimensionale Röntgenbilder der Schädel aufgenommen. Dann wird am Computer ein virtueller Abdruck des Gehirnschädels erstellt ("Endocast"). Das Forscherteam nutzte modernste Mess- und Analysemethoden um die Gestaltveränderungen dieser Endocasts im Laufe der Entwicklung zu vergleichen.
Das wichtigste Indiz: die Gestalt eines Neandertalerschädels bei der Geburt. Bereits 1914 hatte ein Team französischer Archäologen in der Dordogne das Skelett eines Neandertalerbabys entdeckt. Die fossilen Kinderknochen wurden aber kaum beachtet und schließlich vergessen. Erst 90 Jahre später entdeckte Bruno Maureille die verschollenen Knochen im Lager des Museum von Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil in Frankreich wieder. Die zerbrechlichen Fragmente wurden mit zuerst einem hochauflösenden µCT Gerät gescannt und dann im "Virtual Reality"-Labor des Max Planck Institutes in Leipzig rekonstruiert. "Zur Zeit der Geburt ist das Gesicht eines Neandertalers bereits größer als das eines modernen Menschen", erklärt Philipp Gunz. "Die Unterschiede im Gehirn entwickeln sich aber erst nach der Geburt." Neandertaler und Homo sapiens haben bei der Geburt längliche Schädel, mit etwa gleich großen Gehirnen. Im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt sich bei modernen Menschen die charakteristisch runde Schädelform. "Wir konnten zeigen, dass diese frühe Phase der Gehirnentwicklung beim Neandertaler fehlt", erklärt Gunz. Neandertaler und moderne Menschen erreichen daher ähnliche Gehirnvolumina, aber entlang unterschiedlicher Entwicklungsmuster.
Vergleich zwischen Homo sapiens und Schimpansen
In einer früheren Studie hatten die Max-Planck-Forscher die Gehirnentwicklung von modernen Menschen und Schimpansen verglichen. Nachdem die Milchzähne durchgebrochen sind, wachsen deren Gehirne erstaunlich ähnlich. Jedoch direkt nach der Geburt sind die Wachstumsmuster des Gehirns völlig unterschiedlich zwischen modernen Menschen und Schimpansen. "Entwicklungsmuster die bei Schimpansen, modernen Menschen und Neandertalern gleich sind, gehen vermutlich auf den gemeinsamen Vorfahren vor vielen Millionen Jahren zurück", erklärt Simon Neubauer. Im ersten Lebensjahr weichen moderne Menschen von diesem ursprünglichen Entwicklungsmuster ab.
Den Zeitrahmen des Entwicklungsunterschieds zwischen Neandertalern und modernen Menschen einzugrenzen war entscheidend für die Frage, ob diese Unterschiede im Wachstum kognitiven Unterschieden zu Grunde liegen. Die neue Studie zeigt deutliche Entwicklungsunterschiede direkt nach der Geburt, die vermutlich Auswirkungen auf die neuronale und synaptische Organisation des Gehirns haben. Die Entfaltung kognitiver Fähigkeiten bei Kindern beruht auf der Entwicklung der Gehirnorganisation. Zum Zeitpunkt der Geburt sind die Nervenzellen zwar angelegt, aber noch kaum miteinander verknüpft. Klinische Studien haben gezeigt, dass in den ersten Lebensjahren selbst geringfügige Abweichungen im Muster der Gehirnentwicklung die Struktur des Gehirns und damit Kognition und Verhalten beeinflussen. Die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen, die in dieser Zeit bei modernen Menschen geknüpft werden, sind wichtig für soziale, emotionale und kommunikative Fähigkeiten. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Neandertaler die Welt so wahrgenommen haben wie wir.
Die neue Studie zeigt, dass moderne Menschen sich durch eine frühe Phase der Gehirnentwicklung von Neandertalern unterscheiden. Erst kürzlich ergab ein genetischer Vergleich von modernen Menschen und Neandertalern: Der moderne Mensch unterscheidet sich vom Neandertaler durch einige Gene, die wichtig für die Gehirnentwicklung sind.
Philipp Gunz: "Wir haben Unterschiede im Wachstumsmuster des Gehirns entdeckt, die kognitiven Unterschieden zwischen modernen Menschen und Neandertalern zu Grunde liegen könnten. Vermutlich können wir daraus aber mehr über unsere eigene Spezies lernen als über Neandertaler: Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse dazu beitragen werden, die Funktion der Gene zu verstehen, die uns vom Neandertaler unterscheiden."