Lange Kindheit ist von Vorteil
Homo sapiens-Kinder entwickeln sich langsamer als früher Neandertaler-Kinder
Kinder werden viel zu schnell erwachsen. Diese Ansicht können evolutionäre Anthropologen nicht teilen: Denn beim Menschen dauert die Kindheit wesentlich länger als zum Beispiel beim Schimpansen, unserem nächsten Verwandten unter den Menschenaffen. Ein internationales Forscherteam vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, der Harvard University und der "European Synchrotron Radiation Facility" (ESRF) in Grenoble hat jetzt beim Vergleich von Menschen- und Neandertalerkindern ein ähnliches Muster entdeckt: Mithilfe von Synchrotron-Strahlen, einem präzisen Röntgenverfahren, konnten die Forscher das Wachstum von zehn jungen Neandertaler- und Homo sapiens-Fossilien nachvollziehen und sichtbar machen. Abgesehen von einer Überlappung, die für nahe miteinander verwandte Arten typisch ist, entdeckten die Forscher auch signifikante Unterschiede in deren Entwicklung. Moderne Menschen werden, indem sie ihren Reifeprozess ausdehnen, im Vergleich zu Schimpansen und Neandertalern als Letzte "flügge", was ihnen einen einzigartigen evolutionären Vorteil verschafft hat. (PNAS, 15. November, 2010).
Zwischen nahe verwandten Arten, wie z. B. Mensch und Schimpanse, existieren zahlreiche Unterschiede. Sie manifestierten sich, als sich die beiden Abstammungslinien vor sechs bis sieben Millionen Jahren trennten und beide Arten sich unabhängig voneinander weiter entwickelten. Forscher wissen jedoch sehr wenig darüber, welche Veränderungen zur Abspaltung der beiden Linien vom gemeinsamen Vorfahren führten, wie diese Veränderungen entstanden und wann sie auftraten. Ähnlich wie Schimpansen wiesen auch frühe Menschen - Australopithecinen und Vertreter der Gattung Homo - kurze Wachstumsperioden auf. Warum, wann und in welcher Gruppe früher Menschen die "modernen" Voraussetzungen zu einer relativ langen Kindheit entstanden sind, ist ebenfalls noch nicht bekannt.
Eine der bisher nur wenig verstandenen Veränderungen ist unsere einzigartige Lebensgeschichte bzw. die Art, in der wir unser Wachstum, unsere Entwicklung und Fortpflanzungsbemühungen zeitlich aufeinander abstimmen. Im Vergleich zum Menschen ist die Lebensgeschichte von Menschenaffen durch eine kürzere Schwangerschaftsdauer, schnellere Reiferaten nach der Geburt, ein jüngeres Alter bei der ersten Fortpflanzung, eine kürzere postreproduktive Periode und eine kürzere Gesamtlebensspanne gekennzeichnet. So erreichen Schimpansen einige Jahre früher als Menschen die Geschlechtstreife und bringen ihren ersten Nachwuchs im Alter von 13 Jahren zur Welt, Menschen sind durchschnittlich 19 Jahre alt - ermittelt an der weltweiten Bevölkerung. "Die langsame Entwicklung bei Kindern steht im direkten Zusammenhang mit dem Entstehen menschlicher, sozialer und kultureller Komplexität", sagt Jean-Jacques Hublin, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Sie verschafft dem Gehirn eine längere Reifezeit und eine ausgedehnte Periode des Lernens."
Man könnte annehmen, dass die dokumentierten fossilen Funde keine Lebensgeschichten preisgeben. Aber es hat sich herausgestellt, dass viele Variablen der Lebensgeschichte eines Individuums stark mit der Entwicklung der Zähne korrelieren. "Zähne sind beeindruckende Zeitspeicher, die jeden einzelnen Wachstumstag aufzeichnen und ähnlich wie die Jahresringe bei Bäumen den entsprechenden Fortschritt sichtbar machen. Noch beeindruckender ist es, dass unsere ersten Backenzähne eine winzige ‚Geburtsurkunde’ enthalten. Wenn Forscher diese Geburtslinie finden, können sie exakt berechnen, wie alt ein Kind zum Zeitpunkt seines Todes war", erklärt Tanya Smith, die an der Harvard University und dem Max-Planck-Institut in Leipzig forscht.
Mithilfe eines "Supermikroskops" können die Forscher diese forensische Herangehensweise nun auch beim Blick in die Vergangenheit anwenden: An der Europäischen Synchrotron-Strahlen-Anlage (European Synchrotron Radiation Facility, ESRF) im französischen Grenoble, einer der größten Synchrotron-Anlagen der Welt, werden die dazu notwendigen extrem starken Röntgenstrahlen produziert. "An der ESRF können wir in unschätzbar wertvolle Fossilien hineinsehen, ohne sie zu beschädigen, indem wir die speziellen Eigenschaften energiereicher Synchrotron-Röntgenstrahlen nutzen", sagt ESRF-Forscher Paul Tafforeau: "Wir können Fossilien in verschieden großen Maßstäben und in drei Dimensionen untersuchen, von ihrer Gesamtform in 3D bis hin zu den mikroskopisch kleinen Tages-Wachstumslinien. Die ESRF ist zurzeit die einzige Einrichtung, wo diese Untersuchungen an fossilen Menschen möglich sind."
Wissenschaftler waren sich jahrzehntelang uneins, ob Neandertaler anders wuchsen als moderne Menschen. Die Studie von Smith, Tafforeau und anderen Experten schließt einige der berühmtesten Neandertaler-Kinder mit ein, darunter auch das allererste Fossil der menschlichen Familie, das jemals gefunden wurde. Man nahm an, dass dieses Neandertalerkind aus Belgien, das im Winter 1829/30 entdeckt wurde, vier bis fünf Jahre alt war, als es starb. Mithilfe der Synchrotron-Röntgenstrahlen und modernster Computersoftware konnten die Forscher das tatsächliche Alter des Kindes zum Todeszeitpunkt jedoch auf drei Jahre datieren.
Eine bedeutende Erkenntnis aus der aktuellen 5-Jahres-Studie ist, dass die Zähne bei Neandertalern wesentlich schneller wachsen als bei Vertretern unserer eigenen Art, einige der ältesten Gruppen moderner Menschen mit eingeschlossen, die Afrika vor 90.000 bis 100.000 Jahren verließen. Das Wachstumsmuster bei Neandertalern liegt zwischen frühen Vertretern unserer Gattung (z. B. Homo erectus) und heute lebenden Menschen. Das für unsere Art so charakteristische langsame Wachstum und die lange Kindheit scheinen sich also erst kürzlich und ausschließlich in unserer eigenen Art durchgesetzt zu haben. Diese verlängerte Reifeperiode kann zusätzliches Lernen erleichtern, eine komplexe Kognition fördern und verschaffte dem frühen Homo sapiens möglicherweise einen entscheidenden Vorteil gegenüber seinem Cousin, dem Neandertaler.
Die Studien von Smith, Tafforeau und Forschern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie gesellen sich zu der wachsenden Zahl an Beweisen, die besagen, dass es tatsächlich subtile Entwicklungsunterschiede zwischen uns und unserem Cousin, dem Neandertaler, gibt. In der Fachzeitschrift Current Biology berichteten Philipp Gunz und Kollegen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie erst vor Kurzem, dass auch die Entwicklung des Gehirns bei Neandertalern anders verläuft als beim modernen Menschen. Darüber hinaus hat die Sequenzierung des Neandertalergenoms durch Molekularbiologen um Svante Pääbo spannende genetische Hinweise gefunden, die auf Unterschiede bei der Entwicklung des Gehirns und des Skelettes bei Neandertalern im Vergleich zum modernen Menschen hindeuten. Diese neuen Methoden ermöglichen es den Forschern, die Ursprünge einer grundlegenden menschlichen Eigenschaft zu beleuchten: den kostspieligen aber vorteilhaften Übergang von der ursprünglichen Strategie "Lebe schnell und stirb jung" zur fortgeschritteneren Strategie "Lebe langsam und werde alt", die uns zu einer der erfolgreichsten Organismen auf diesem Planeten gemacht hat.