Chronobiologie: Innere Uhren im Takt

Wie unterschiedlich die innere Uhr von Menschen ticken kann, dafür ist Ludwig der Zweite von Bayern ein eindrucksvolles Beispiel: Historischen Quellen zufolge ging der Monarch üblicherweise nachts seinen Regierungsgeschäften nach, den Tag dagegen verschlief er weitgehend. Ob der Märchenkönig unter einer Störung litt, die seinen Schlaf-Wachrhythmus durcheinandergebracht hat, darüber kann zwar auch Gregor Eichele nur spekulieren. Zusammen mit seinem Team am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen hat er aber viele neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie die natürlichen Taktgeber unseres Körpers funktionieren.

Text: Klaus Wilhelm

"Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist untrennbar mit unserer inneren Uhr verbunden“, sagt Gregor Eichele, der am Göttinger Max-Planck-Institut die Abteilung „Gene und Verhalten“ leitet. Eichele weiß aus eigener Erfahrung, wie stark sich die innere Uhr auf das Wohlbefinden auswirken kann. Schließlich ist er selbst jahrelang regelmäßig zwischen Deutschland und den USA hin- und hergependelt. Als Forscher ist die circadiane Uhr seit Langem eine seiner wissenschaftlichen Leidenschaften.

Dass Schlaf und innere Uhr eng miteinander zusammenhängen, spüren täglich Millionen von Menschen: Flugreisende überqueren heute innerhalb weniger Studen mehrere Zeitzonen. Eine häufige Folge: Die innere Uhr gerät aus dem Takt. Andere klagen bereits über Schlafstörungen, wenn die Uhr nur um eine Stunde von Sommer- auf Winterzeit verstellt wird. Selbst bei vermeintlich so geringen Umstellungen kann es einige Tage dauern, bis die äußere wieder mit der inneren Uhr synchron läuft und die Betroffenen wieder wie gewohnt schlafen.

„Trotzdem sind Schlaf und innere Uhr grundverschieden: Während Schlaf eine Leistung des ganzen Organismus darstellt, ist die innere Uhr eine Eigenschaft einzelner Zellen“, betont Eichele. Gleichzeitig beeinflussen sie sich beide gegenseitig. Ein Beispiel: Die Nervennetzwerke und Substanzen wie Oxitocin und andere Neuropeptide, die den Schlaf regulieren, stehen unter Kontrolle der zirkadianen Uhr mir ihrem 24-Stunden-Rhythmus. Sie ist somit zwingende Voraussetzung dafür, dass wir zur richtigen Zeit einschlafen können.

Der Begriff „circadian“ leitet sich vom lateinischen circa (ungefähr) und dies (Tag) ab. Er drückt aus, dass die innere Uhr nur annähernd im 24-Stunden-Takt schwingt. Ein Mensch kann zum Beispiel eine circadiane Uhr mit einem Rhythmus von 24,7 Stunden haben. Würde er in einem gleichbleibend beleuchteten Raum über mehrere Wochen leben, begänne er also täglich 42 Minuten später zu schlafen als am jeweiligen Vortag. Erst die Umweltbedingungen – an erster Stelle das Licht – kalibrieren als Zeitgeber die innere Uhr immer wieder auf genau 24 Stunden.

Dieses umständlich anmutende System exisitiert, weil der tägliche Wechsel von Tag und Nacht nicht ausreicht, um die Abläufe in unserem Körper im Takt zu halten. Das wird beim Blick auf den Hell-Dunkel-Rhythmus unseres modernen Lebens sofort klar: Wenn unsere physiologischen Rhythmen allein eine Reaktion auf die An- oder Abwesenheit von Licht wären, würde sich jeder verlängerte Abend mit all seinen künstlichen Lichtquellen katastrophal auf unseren Stoffwechsel und den Schlaf-Wachrhythmus auswirken. Stattdessen signalisiert unsere innere Uhr, dass es sich hierbei um falsche äußere Zeitsignale handelt, und hält so den Organismus zeitlich stabil.

Entstanden ist die circadiane Uhr wahrscheinlich gleich zu Anbeginn der Evolution. Schon die allerersten Einzeller in den Urmeeren profitierten möglicherweise davon, wenn sie den Sonnenaufgang vorhersagen und rechtzeitig in tiefere Wasserschichten abtauchen konnten. So entgingen sie der damals noch weitgehend ungefiltert auf die Erde treffenden UV-Strahlung der Sonne. In der Finsternis der Tiefsee signalisierte die Uhr den Mikroben dann wieder, wann es Zeit zum Auftauchen war.

Einmal in der Welt haben fast alle Lebewesen das innere circadiane Uhrwerk beibehalten: Für Pflanzen ist es sinnvoll, dass sie nur tagsüber Fotosynthese betreiben. Bei tagaktiven Säugetieren wie dem Menschen steigt die Körpertemperatur bereits vor dem Aufwachen. Am Morgen erreicht die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol seinen Höhepunkt und kurbelt so die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit an. Auch Stoffwechsel, Muskelspannung, Nierenfunktion und Konzentrationsfähigkeit schwanken im Laufe eines Tages.

Jede einzelne Zelle, jedes Gewebe, jedes Organ sowie der Gesamtorganismus besitzt ein molekulares Uhrwerk – egal ob in Leber oder Niere, Herz oder Darm, Immunsystem oder Haut. „Wir verfügen also über einen regelrechten Uhrenladen“, erklärt Eichele – als Schweizer gewissermaßen prädestiniert für die Analyse solcher Instrumente. Damit all die Uhren immer dieselbe Zeit anzeigen, müssen sie permanent untereinander synchronisiert werden, jede einzelne Zell-Uhr genauso wie die Organ-Uhren – und der gesamte Organismus mit dem 24-Stunden Licht/Dunkel-Zyklus der Umwelt.

Die wichtigste Uhr sitzt im Gehirn, im sogenannten suprachiasmatischen Nukleus. In diesem Kern sammeln sich beim Menschen 50.000 eng miteinander verknüpfte Nervenzellen, die mit Neuronen diverser anderen Hirnregionen verschaltet sind. Über feine Nervenfasern empfängt der Kern Signale von spezialisierten Sinneszellen in den Augen. Trifft Licht auf ein lichtempfindliches Pigment in den Sinneszellen der Netzhaut, bilden diese ein elektrisches Signal und übermitteln es an den suprachiasmatischen Nukleus.

Ohne den suprachiasmatischen Nukleus verlieren beispielsweise Hamster ihren Tagesrhythmus. Wissenschaftler haben dies gemessen, indem sie den Tieren ein Laufrad in den Käfig stellten und die Umdrehungen des Rads als Maß für die Aktivität des Hamsters aufzeichneten. Normalerweise sind Hamster in erster Linie vor Sonnenauf- und nach Sonnenuntergang aktiv. Ohne suprachiasmatischen Nukleus betätigten sie sich stattdessen sowohl tagsüber als auch nachts ähnlich häufig. Geschlafen haben die Tiere dagegen nicht mehr als üblich.

Dieser Befund legte den Schluss nahe, dass der Nukleus als oberster Taktgeber seine Informationen an alle anderen Uhren in den Zellen, Geweben und Organen des Körpers übermittelt und sie sowohl mit dem Tageslauf als auch untereinander synchronisiert. Doch nach jüngsten Versuchen wankt diese Theorie: Eicheles Team hat nämlich Mäuse genetisch so verändert, dass das wichtige Uhr-Gen Bmal1 im suprachiasmatischen Nukleus inaktiv ist. Der Unterschied zu den Studien an den Hamstern: Die Verbindungen vom und zum Nukleus werden nicht gekapppt, sondern bleiben bestehen. Der Theorie zufolge müsste in der inneren Uhrenwelt der Tiere trotzdem ein Chaos ausbrechen.

Tut es aber nicht! „Es hat sich gezeigt, dass die anderen circadianen Uhren auch ohne die Zentraluhr im suprachiasmatischen Nukleus im Takt bleiben“, erklärt Eichele – zumindest unter der Bedingung, dass sich Helligkeit und Dunkelheit im 24-Stunden-Takt abwechseln. Fehlt den Mäusen das Uhr-Gen und leben sie dazu noch in permanenter Dunkelheit, entsteht dagegen Unordung: Sie haben dann Probleme, ihre inneren Uhren im Gleichtakt zu halten.

Der Körper braucht also zwingend den natürlichen Hell-Dunkel-Wechsel als Zeitgeber. Nahrungsaufnahme kann die circadiane Uhr zwar auch auf exakt 24 Stunden eichen – sie führt aber nur zu halbwegs synchronen inneren Zeitmessern. Offenbar ist das Uhrensystem organisiert ist wie ein föderaler Staat, den die einzelnen Landesregierungen am Laufen halten können, auch wenn die Bundesregierung mal schwächelt. „Dieses System ist letzten Endes stabiler als eines, das sich ausschließlich auf den suprachiasmatischen Nukleus verlässt“, sagt Eichele.

Doch wie synchronisieren sich die inneren Uhren ohne den zentralen Schrittmacher im Gehirn? Eine Möglichkeit ist, dass die Körperuhren Hell/Dunkel-Informationen aus dem suprachiasmatischen Nukleus erhalten, denn Forscher haben belegt, dass Licht über das vegetative Nervensystem Uhr-Gene in Organen wie der Leber aktivieren kann.

Fehlt der Nukleus, versiegen auch die Lichtsignale, die von den Augen in den Körper wandern. So kann das Licht nicht mehr das vegetative Nervensystem beeinflussen – und infolgedessen auch nicht die Körper-Uhren. Da die Göttinger Wissenschaftler nicht den kompletten Nervenkern ausschalten, sondern nur ein einzelnes Uhr-Gen, können die Lichtsignale weiter über den Nukleus die übrigen Uhren im Körper erreichen und synchronisieren. Offenbar müssen die Signale nicht in seinen Uhr-Zellen vorverarbeitet werden.

Es ist aber auch möglich, dass andere wichtige Uhren im Gehirn direkt für den suprachiasmatischen Nukleus einspringen und die Körperuhren gleichschalten. Eine Kandidatin dafür wäre die Hirnanhangdrüse. Sie erhält ebenfalls die Lichtsignale aus den Augen. Die Drüse an der Unterseite des Gehirns schüttet das Hormon ACTH ins Blut aus, von wo aus es in die Nebennieren gespült wird und wo es die Ausschüttung von Kortisol, Adrenalin und Noradrenalin auslöst.

Diese Stresshormone sind als wichtige Zeitgeber für die inneren Uhren bekannt. Eichele und sein Team haben entdeckt, dass die Mäuse mit defektem Uhr-Gen das Hormon Kortikosteron im Tagesverlauf rhythmisch ausschütten – und zwar fast wie bei normalen Mäusen im Gleichtakt mit den anderen Körper-Uhren. Dieses Hormon entspricht dem Kortisol beim Menschen. „Fällt also der suprachiasmatische Nukleus als Taktgeber aus, synchronisiert womöglich Kortikosteron die Körperuhren“, folgert Eichele. Das spräche dafür, dass der innere Zeitmesser in den Nebennieren fast so bedeutend ist wie die Uhr im suprachiasmatischen Nukleus.

Aber nicht nur Licht, auch Schlaf beeinflusst die Uhren in den Geweben und Organen des Körpers. „Man muss dabei aber ungestört sein, darf keinen Stress haben und muss schlafen können, wann man will. Also entsprechend dem persönlichen Chronotypen, der bestimmt, ob man früh oder spät zu Bett gehen und eher kurz oder eher lang schlafen mag“, erklärt Henrik Oster von der Universität Lübeck, der bis Ende 2012 eine Forschungsgruppe am Göttinger Max-Planck-Institut geleitet hat.

Seit seiner Zeit in Göttingen erforscht Oster mit seinen Kollegen, wie Schlaf, innere Uhr und Stoffwechsel zusammenhängen. Dabei haben sie beispielsweise beobachtet, dass bei gestörtem Schlaf die Leber- und Fettzellen von Mäusen nicht mehr synchron ticken. Ob sich auch die Rhythmik der Zellen anderer Organe wie der Nieren entkoppelt, versuchen die Wissenschaftergerade herauszufinden.

Vieles deutet zudem daraufhin, dass ein gestörter Schlaf über die innere Uhr auch den Stoffwechsel durcheinanderbringen kann. So hat Oster mit seinen Kollegen am Max-Planck-Institut den Schlafrhythmus und damit auch die innere Uhr aus dem Takt gebracht: Die Forscher hielten Mäuse morgens vom Schlafengehen ab, indem sie den Tieren Spielzeug in die Käfige legten. Nach ein paar Tagen zeigte sich, dass die Schlafstörung die innere Uhr peripherer Organe beeinflusst. Diese können dann wichtige Stoffwechsel-Gene nicht mehr korrekt an- und abschalten.

Ein Beispiel für eine solche Stoffwechselstörung ist die sogenannte Hormon-sensitive Lipase. Normalweise sorgt die circadiane Uhr dafür, dass dieses Fettzellen-Enzym in der Schlafphase aktiv ist. Es baut dann gespeicherte Fette ab, die der Körper braucht, um die Zeit ohne Nahrung zu überbrücken. Da die Lipase bei Schlafstörungen aber nicht mehr so aktiv ist, werden kaum Fette in den Körper freigesetzt. „Weil unter diesen Umständen der Blutzuckerspiegel fällt, kommt es zu einem Energienotstand: Die Tiere bekommen Hunger“, sagt Oster. Die Mäuse beginnen also zu fressen, was ihren Schlaf erst recht stört. So entsteht ein Teufelskreis, in dessen Verlauf die Tiere immer mehr an Gewicht zulegen. Dazu kommt, dass Hormone des Magens die Uhr der Leber verstellen, wenn diese in der eigentlichen Schlafzeit fressen. Dies führt dazu, dass der Leber-Stoffwechsel immer weiter entgleist.

Kann der Körper dieses Stoffwechsel-Chaos irgendwie kompensieren? Die Antwort: unter bestimmten Umständen! Osters Team hat Mäuse beim Schlafen gestört und ihnen nur während ihrer normalen Wachphase Zugang zu Nahrung gewährt. Dann aber konnten sie so viel essen wie sie wollten. „Das hat die Aktivierung der Uhr-Gene in der Leber nomalisiert“, sagt Oster. „Wann also gegessen wird, scheint ein ganz wichtiger Faktor bei der Entwicklung von Übergewicht und Stoffwechselerkrankungen zu sein.“

Die Lübecker Forscher haben ebenfalls beobachtet, dass Uhr-Gene auch beim Menschen nach Schlafentzug Veränderungen im Stoffwechsel hervorrufen. Ob daraus aber wirklich Adipositas und Diabetes entstehen können, ist noch nicht belegt. Studien an Schichtarbeitern deuten allerdings darauf hin.

Die Experimente mit den Mäusen zeigen jedenfalls eindeutig, dass richtig getakteter Schlaf und Nahrungsaufnahme viele der entgleisten Stoffwechselvorgänge ausgleichen und vielleicht sogar teilweise rückgängig machen kann. Nicht nur deshalb glaubt Oster, dass die Stabilisierung der inneren Rhythmik ein wichtiger Faktor bei der Behandlung von Stoffwechselerkrankungen sein kann. Schließlich folgen all diese Erkrankungen einem starken Tagesrhythmus und lassen sich durch Stress beeinflussen. Schlaf spielt dabei eine wichtige Rolle: „Wer ausreichend schläft und dies zur richtigen Zeit“, meint Oster, „ist weniger anfällig für diese Erkrankungen.“
 

Auf den Punkt gebracht

  • Schlaf und innere Uhr hängen eng miteinander zusammen: Gerät die innere Uhr aus dem Tritt, können Schlafprobleme die Folge sein. Und wer schlecht oder unregelmäßig schläft, stört auch seine innere Uhr.

  • Auch Zellen und Organe folgen einer eigenen inneren Uhr. Der suprachiasmatische Nukleus, eine Ansammlung von Nervenzellen im Gehirn, ist ein zentraler Taktgeber für andere Uhren des Körpers. Diese funktionieren aber auch ohne ihn. Manche von ihnen erhalten dabei direkt Hell/Dunkel-Informationen über die Augen.

  • Schlafstörungen können möglicherweise Stoffwechselerkrankungen auslösen, indem sie die Aktivität von Uhr-Genen durcheinanderbringen. Dadurch können Stoffwechselvorgänge durcheinandergeraten.

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