"Der Brexit wird aufwändiger, als viele denken"
Jürgen Basedow erklärt, warum den Briten langwierige Verhandlungen bevorstehen und sich erst einmal wenig ändern wird.
Am 23. Juni 2016 stimmte die Mehrheit der britischen Bürger für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die neue britische Premierministerin Theresa May, kündigte bei ihrem Amtsantritt an, die Entscheidung zügig in die Tat umzusetzen. Und sie versprach: „Die Macht von EU-Gesetzen in diesem Land endet für immer“. Jürgen Basedow, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, ist der Ansicht, dass europäische Regeln in Großbritannien noch lange fortbestehen werden.
Herr Basedow, warum können die Briten nicht einfach – wie ein Abgeordneter der Tories es forderte – „anbieten, den zollfreien Handel beizubehalten, einen Brief schreiben und austreten“?
Großbritannien ist seit 44 Jahren Mitglied der Europäischen Union. Seither wurden weitreichende Verträge geschlossen, es wurden Hunderte von Verordnungen und Richtlinien erlassen. Das betrifft die unterschiedlichsten Bereiche: Es gibt zum Beispiel umfassende Regelungen zum Verbraucherschutz etwa bei der Produkthaftung oder beim Verbot irreführender Werbung. Im Arbeitsrecht gibt es klare Vorgaben, wie die Gesundheit von Arbeitnehmern geschützt werden muss oder welche Rechte Betriebsräte haben. Es gibt gemeinsame Verordnungen zur Sozialversicherung, zum Umweltschutz, zu Insolvenzverfahren, zur Zulassung von Arzneimitteln und so weiter. Wenn die Briten die EU verlassen, müssen sie festlegen, was anstelle all dieser Normen tritt.
Theresa May hat angekündigt, in der nächsten Sitzungsperiode ab Mai 2017 eine „Great Repeal Bill“ ins britische Parlament einzubringen. Was steckt dahinter?
Zunächst geht es darum, dass in Großbritannien zum Zeitpunkt des Austritts auch das Gesetz aufgehoben wird, mit dem das Land 1972 beim Eintritt die Regeln der EU angenommen hat. Gleichzeitig soll die „Great Repeal Bill“ die europäischen Normen, also vor allem die EU-Verordnungen, in nationales Recht umwandeln. Diese Umwandlung ist ein Gebot der Zeitnot: Nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags sind nur zwei Jahre für Austrittsverhandlungen vorgesehen. Sobald die Briten offiziell den Antrag auf Austritt stellen, beginnt die Uhr zu ticken. Wenn die Verhandlungen nach 24 Monaten nicht beendet sind und die Frist nicht verlängert wird, treten alle Verträge und Regelungen der EU in England außer Kraft, ohne dass klar ist, welche Vorschriften dann gelten sollen. Für diesen Fall will Theresa May vorsorgen.
Wenn die EU-Bestimmungen ohnehin in britisches Recht umgewandelt werden, was ändert sich dann für die Briten?
Die Regelung gibt Unternehmern und Bürgern in Großbritannien erst einmal Rechtssicherheit. Später wird das Parlament entscheiden, ob wirklich alle Normen beibehalten werden oder was geändert werden soll. Allerdings liegen die Schwierigkeiten für die Briten nicht im eigenen Land, sondern in den verbleibenden EU-Staaten: Wenn Großbritannien nicht mehr EU-Mitglied ist, verlieren britische Unternehmen und Dienstleister etliche Vorteile auf dem Kontinent. Anwälte, Finanzberater, Architekten und viele andere dürfen dann nicht mehr ohne weiteres in Deutschland, Frankreich oder Schweden tätig werden. Besonders deutlich werden sich die Nachteile bei der Rechtsprechung zeigen: Die Entscheidungen britischer Gerichte werden in EU-Ländern nicht mehr automatisch anerkannt. Das betrifft schon so einfache Fälle wie einen Autounfall und die Frage, welche Versicherung zahlen muss.
Solche Themen wollen die Briten ja in den Austrittsverhandlungen regeln.
Das kommt darauf an, wie lange sie verhandeln wollen. Bei der enormen Menge von EU-Regelungen ist das sicher nicht in zwei Jahren zu schaffen. Ich schätze eher, dass die Verhandlungen acht oder zehn Jahre in Anspruch nehmen. Es sei denn, man nimmt ein bereitliegendes Modell, nämlich die Verträge mit Norwegen, Island und Liechtenstein. Allerdings gelten dort alle Verkehrsfreiheiten, also freier Personen-, Waren- und Kapitalverkehr und Dienstleistungsfreiheit. Wobei zum Bereich Personenverkehr auch die Niederlassungsfreiheit und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gehört.
Aber genau das möchten die Briten nicht, sie wollen weniger Einwanderung.
Daher wird das Thema Freizügigkeit sicher der schwierigste Punkt. Theresa May hat angekündigt: „Norway is not a model“. Auf der anderen Seite wird die EU von den Verkehrsfreiheiten nicht abrücken, da bin ich mir sicher. Daher könnte, wenn die Zeit drängt, das Modell Norwegen doch kommen, zumindest als Zwischenlösung. Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass Großbritannien über jeden Rechtsakt einzeln sprechen wird. Zumal die Verhandlungen mit der EU nicht die einzigen sein werden.
Was kommt noch dazu?
Die EU hat sehr viele völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten geschlossen, die für Großbritannien nicht automatisch weiter gelten, wenn das Land austritt. Das sind Abkommen beispielsweise zur Haftung im Luftverkehr, zum Urheberrecht oder zum Umweltschutz, außerdem zahlreiche Handelsabkommen. China hat angekündigt, dass es daran interessiert ist, mit Großbritannien ein Freihandelsabkommen zu schließen, und gleich dazu gesagt, dass die Briten 500 Leute bereitstellen sollten, um die Details auszuarbeiten. Das zeigt nicht nur, dass der Brexit viel aufwändiger wird, als manche sich das vorgestellt haben. Es zeigt auch: Die EU ist mehr als der Zusammenschluss der Mitgliedsstaaten, sie ist ein Spieler auf Weltebene. Das lässt sich nicht so leicht ersetzen.
Interview: Mechthild Zimmermann