Urahnen im Überblick
Wer sind wir? Und woher kommen wir? Auf diese uralten Menschheitsfragen gab es in letzter Zeit viele neue, überraschende Antworten – vor allem, was die vergangenen 600 000 Jahre unserer Geschichte angeht
So weiß man heute, dass in Europa bereits vor mehr als 420 000 Jahren Neandertaler lebten. Und dass diese Menschenart, auch wenn sie seit Langem ausgestorben ist, bis heute Spuren in unseren Genen hinterlassen hat. Und es gibt Erkenntnisse über eine Verwandtschaft zwischen Europäern und amerikanischen Ureinwohnern, obwohl der amerikanische Kontinent vom Osten Sibiriens aus besiedelt wurde.
Es ist der junge Forschungszweig der Archäogenetik, der immer mehr solcher Einsichten ermöglicht. Mittels DNA-Analysen sind die Wissenschaftler in der Lage, aus uralten menschlichen Knochen oder Zähnen – selbst aus winzigen Stückchen – herauszulesen, um welche Menschenart es sich handelt. Sie können Stammbäume erstellen und sogar Rückschlüsse darauf ziehen, wie lange eine menschliche Population Afrika bereits verlassen hat.
Pionier auf diesem Gebiet ist Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, der unter anderem das Neandertaler-Genom entschlüsselt hat. Ebenfalls zu den führenden Archäogenetikern gehört Pääbos ehemaliger Schüler Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus ihren Instituten und in internationaler Kooperation entdecken die beiden Wissenschaftler immer mehr Details aus der Menschheitsgeschichte.
Diese vielen Puzzlestücke fügt Krause nun in "Die Reise unserer Gene" zu einem großen Bild zusammen. Das Buch vermittelt einen fundierten Überblick über die Entwicklung unserer Urahnen von den ersten Menschen in Europa bis zur Bronzezeit. Demnach gab es drei große Einwanderungswellen auf unseren Kontinent, die sich bis heute in unseren Genen widerspiegeln: Die erste große Population moderner Menschen kam vor 40 000 Jahren, sie zogen als Jäger und Sammler umher. Vor rund 8000 Jahren begannen anatolische Bauern über den Balkan nach Europa einzuwandern; sie verdrängten teilweise die Jäger und Sammler, ansonsten hielten beide Gruppen an ihrer Lebensweise fest und lebten weitgehend getrennt. Vor rund 4800 Jahren kamen noch einmal neue Einwanderer: Hirten aus der Steppenregion nördlich des Schwarzen Meeres. Sie zogen in großer Zahl nach Europa und müssen hier auf teils menschenleere Gebiete getroffen sein. Möglicherweise waren viele der früheren Siedler einer Pestepidemie zum Opfer gefallen.
Zusätzlich zur Migrationsgeschichte gibt das Buch auch noch Einblicke in die Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen. Und es zeichnet die Entwicklung und Ausbreitung berüchtigter Infektionskrankheiten wie der Pest, der Syphilis und der Tuberkulose nach.
Gemeinsam mit dem Journalisten Thomas Trappe ist es Johannes Krause gelungen, die Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite leicht lesbar, gut verständlich und spannend zu erzählen. Vorwissen benötigt man für die Lektüre kaum. Begriffe und grundlegendes Wissen etwa zum menschlichen Immunsystem werden auf farblich abgesetzten Seiten kurz erklärt, sodass man sie auch überspringen kann, wenn man die Erklärungen nicht braucht.
"Die Reise unserer Gene" gibt zudem Einblicke in das wissenschaftliche Vorgehen: Die Methoden werden in Kürze erläutert, man erfährt von gegensätzlichen Thesen und früheren Fehlinterpretationen, sodass klar wird: Die Forschung geht nie geradlinig, es gab und gibt Sackgassen, widersprüchliche Erkenntnisse und verschiedene Deutungsmöglichkeiten.
Dabei bleibt das Buch nicht in der Vergangenheit stehen. Krause bezieht sowohl im Vorwort als auch im Schlusskapitel pointiert Stellung zur aktuellen Migrationsdebatte. Dabei stellt er klar: Wir alle haben einen Migrationshintergrund, denn unsere Vorfahren müssen zu irgendeiner Zeit von anderswo zugezogen sein. Auch wenn Einwanderung wohl nie konfliktfrei verlief – erst die Migration aus entfernten Gebieten hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind: genetisch, aber auch sprachlich, kulturell und technisch. Der Versuch nationalistischer Propaganda, uns in Nationen zu separieren und voneinander abzuschotten, ist mit genetischen Unterschieden nicht begründbar. Dazu sind wir – nicht nur in Europa – viel zu eng miteinander verwandt.
Mechthild Zimmermann