Hyperaktiver Gesetzgeber
Zahlreiche Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht führen zu Unterschieden in der Anwendung und zu Rechtsunsicherheit
In kaum einem anderen Rechtsbereich gab es innerhalb weniger Jahre so viele Gesetzesänderungen in Deutschland wie im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Dadurch wird es immer schwieriger, sich bei der Vielzahl der Regelungen zurechtzufinden – sowohl für die Geflüchteten als auch für die Behörden, die die Gesetze anwenden. Nach Untersuchungen zweier Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in München wäre eine Systembereinigung dringend notwendig; auch weil die Gesetzesänderungen auf nationaler Ebene immer häufiger Vorgaben aus dem Europarecht und Völkerrecht verletzen.
Seitdem im Sommer 2015 Hunderttausende Menschen in Europa Zuflucht suchten, handeln die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Migrationsfragen zunehmend uneins und national orientiert. Dadurch ist die Asylgesetzgebung auf europäischer Ebene quasi zum Stillstand gekommen. „In der Folge sind Spielräume entstanden, die der Gesetzgeber in Deutschland zu einer als hyperaktiv zu bezeichnenden legislativen Tätigkeit genutzt hat“, sagt Constantin Hruschka, der als Jurist am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik forscht. „Bis dato gibt es 40 Änderungen der asyl- und aufenthaltsrechtlich relevanten Gesetze seit 2015, die in aller Regel jeweils wiederum eine Veränderung zahlreicher Einzelnormen zur Folge hatten – weitere Neuerungen werden bereits diskutiert.“
Die erste Gesetzesänderung im untersuchten Zeitraum 2015 bis 2020 trat nur vier Wochen, nachdem sie erstmals in den Bundestag eingebracht worden war, in Kraft, und damit wesentlich schneller als sonst im Gesetzgebungsverfahren üblich. Auch weitere Änderungen wurden in dieser Geschwindigkeit umgesetzt. Der Normenkontrollrat, ein von der Bundesregierung eingesetztes unabhängiges Gremium, das die Bundesregierung in Sachen Rechtsetzung berät, kritisierte die Art der gesetzgeberischen Tätigkeit im Jahr 2019 als einen „Ad-Hoc-Reparaturbetrieb“.
Constantin Hruschka und Tim Rohmann vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München konnten durch die Analyse von Gesetzestexten und parlamentarischen Diskussionen zeigen, dass die rege Rechtssetzungstätigkeit in erster Linie auf den zunehmenden politischen und öffentlichen Druck in der Migrationsdebatte zurückzuführen ist. Diese wurde durch einzelne Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht oder das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz angeheizt. „In der Folge versuchte der Gesetzgeber, den vielfach als inadäquat wahrgenommenen nationalen Rechtsrahmen zu verändern – wobei er teilweise von den geltenden internationalen Standards abwich - um mit den Mitteln des Aufenthalts- und Asylrechts Straftaten zu unterbinden und bestehende Ausreiseverpflichtungen ‚besser‘ durchzusetzen“, sagt Constantin Hruschka. So seien etwa Tatbestände, die zu einer Ausweisung führen, erweitert und Restriktionen gegen sogenannte Identitätsverweigerer eingeführt worden.
Durch die zahlreichen, in rascher Abfolge verabschiedeten Gesetzesänderungen habe die Kohärenz im Asyl- und Aufenthaltsrecht erheblich gelitten. Die Forscher zeigen, dass sich seit Anfang 2016 auch der Fokus der Gesetzgebungstätigkeit verschoben hat: von einem Managementansatz mit dem Ziel der kurzfristigen Bewältigung stark ansteigender Zahlen zu einem Ansatz, bei dem es vor allem um Rückkehr und „Missbrauchsbekämpfung“ gehe.
Schrittweise seien dadurch die früheren Versuche, die Integration von Asylsuchenden zu fördern, durch eine Politik der Ausgrenzung ersetzt worden. „Selbst im Bereich der Integrationsförderung für schutzbedürftige Personen sind mittlerweile zahlreiche Exklusionsmechanismen zu beobachten“, stellt Tim Rohmann fest. So sei die erst 2015 erfolgte Öffnung des Arbeitsmarktes und der Integrationskurse für Asylsuchende von einer „guten Bleibeperspektive“ abhängig gemacht worden. „Besonders hart trifft das Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, die gänzlich vom Arbeitsmarkt und von Integrationskursen ausgeschlossen sind“, fügt Tim Rohmann hinzu. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber zum Beispiel die Kürzungen bei den Sozialleistungen stark ausgeweitet und die Bewegungsfreiheit von schutzsuchenden Menschen durch die auf 18 Monate ausgedehnte regelmäßige Wohnverpflichtung in den Ankerzentren und vergleichbaren Einrichtungen deutlich eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund ziehen die Forscher folgende Bilanz: Die Flut von Gesetzen, die ihre Ursache in einem „gefühlten“ Kontrollverlust hatte, begegnete diesem jedoch nicht, sondern verschärfte ihn vielmehr. „Die durch die vielen Änderungen beförderten Inkohärenzen im Asyl- und Migrationsrecht führen in der Praxis zu großen Unsicherheiten bei allen Akteuren, unter anderem bei Rechtsberaterinnen und Rechtsberatern, bei Geflüchteten, aber gerade auch bei den ausführenden Behörden“, sagt Constantin Hruschka. Vor allem bei den lokalen Behörden zeigten sich große Unterschiede in der Entscheidungspraxis. „Der Spielraum bei den Entscheidungen birgt das Risiko, dass bei der Anwendung des Rechts Standards aus dem Völker- und dem Europarecht etwa mit Blick auf den Zugang zu sozialen Rechten wie dem Recht auf Zugang zu Bildung oder auf Familienzusammenführung verletzt werden“, stellt Tim Rohmann fest. Daher kann nach den Erkenntnissen der beiden Wissenschaftler eine rein anlassbezogene und vom tagesaktuellen politischen Geschehen getriebene Gesetzgebung keine adäquaten Lösungen für die Herausforderungen fluchtbedingter Migration herbeiführen.
Eva Völker
Das Projekt
Die 2017 von der Max-Planck-Gesellschaft ins Leben gerufene Wissenschaftsinitiative Migration führte erstmals Forschende aus sechs Max-Planck-Instituten in Berlin, Göttingen, Halle, Heidelberg, München und Rostock zusammen. Der interdisziplinäre Forschungsverbund, der in diesem Jahr seine Ergebnisse vorlegt, untersuchte die Faktoren, die Migration, Integration und Exklusion beeinflussen, aus der Perspektive der Anthropologie, Demografie, Epidemiologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Vier Projekte daraus stellen wir exemplarisch vor. Sie zeigen die migrationspolitischen Herausforderungen auf, die seit Angela Merkels „Wir schaffen das" von 2015 auf unterschiedlichen Ebenen – von der europäischen bis zur lokalen – bestehen.