Tiere sind jünger als gedacht
Chemisch veränderte fossile Algenmoleküle haben den Nachweis der ersten schwammähnlichen Tiere verfälscht
Bereits im Jahr 2009 fanden Forscher in mehr als 635 Millionen Jahre alten Gesteinen fossile Lipidmoleküle, altertümliche Steroide, die sie für Überbleibsel von Meeresschwämmen hielten. Da Schwämme zu den ältesten und einfachsten Vertretern der Tierwelt gehören, wurden diese Funde als früheste Spuren tierischen Lebens überhaupt interpretiert. Größere Schwammfossilien, die zu den Steroidmolekülen passen würden, wurden aber nie entdeckt. „Ein großes Rätsel der frühen tierischen Evolution war bisher, dass eindeutige Fossilien aus diesem Zeitraum fehlten, chemische Überreste schwammartiger Tiere aber reichlich vorhanden zu sein schienen", sagt Benjamin Nettersheim, der am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena und am Marum – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen forscht.
Geologische Prozesse machen Algenmoleküle zu tierischen Steroiden
Das Rätsel lösen nun zwei voneinander unabhängige experimentelle Studien. „Wir konnten zeigen, dass sich Moleküle aus gewöhnlichen Algen unter dem Einfluss geologischer Prozesse chemisch so verändern können, dass sie zu besagten Steroidmolekülen werden", sagt Lennart van Maldegem aus derselben Arbeitsgruppe. „Diese vermeintlich fossilen Moleküle lassen sich nicht von denen aus schwammähnlichen Tieren unterscheiden, die in 100 Millionen Jahre jüngeren Fossilien gefunden wurden."
In einer zweiten Studie bestätigt eine Gruppe von der Australian National University und dem California Institute of Technology den Befund. „Es stimmt zwar, dass Schwämme die einzigen lebenden Organismen sind, die diese Steroide produzieren können. Aber chemische Umwandlungen können unter besonderen geologischen Bedingungen einfache Steroide aus pflanzlichen Algen in vermeintlich tierische umwandeln", sagt Ilya Bobrovskiy, der den Ursprung tierischen Lebens an der Australian National University untersucht.
Ein klarer zeitlicher Rahmen für die Evolution der Tiere
Beide Forschungsteams erbrachten den Beweis für die evolutionsgeschichtliche Täuschung im Chemielabor: Als Ausgangsstoffe verwendeten sie Steroide, die aus Algen extrahiert wurden, beziehungsweise synthetische Substanzen. Aus diesen erzeugten sie die tierischen Steroide mit Pyrolysetechniken und simulierten damit die geologischen Prozesse.
Bereits im Jahr 2019 zeigte ein Team um Benjamin Nettersheim und Christian Hallmann, dass die Steroidfunde, die bislang Tieren zugerechnet wurden, auch von Protisten stammen könnten. Diese Einzeller, die informell zu den Protozoen oder Urtierchen gezählt werden, sind in modernen Ozeanen weit verbreitet. In modernen Urtierchen wurden jedoch nur geringe Mengen der entsprechenden Steroide nachgewiesen. Die neuen Ergebnisse zeigen, dass die Spuren im alten Gestein wahrscheinlich weder von Tieren noch Protozoen stammen.
Christian Hallmann, Professor an der Universität Potsdam und Leiter einer der beiden aktuellen Studien, unterstreicht die Bedeutung der neuen Erkenntnisse für unser Verständnis der Evolution: „Den Aufstieg der Tiere zu verstehen, ist deshalb so unglaublich wichtig, weil er an der Wurzel unserer ureigenen Existenz steht. Bevor wir untersuchen können, welche Faktoren die Entwicklung zu komplexen Organismen vorantrieben, müssen wir zunächst den zeitlichen Rahmen der Evolution klar abstecken.“
Bis zum Kambrium gab es für tierisches Leben zu wenig Sauerstoff
Das Auftauchen der ersten tierischen Organismen wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv und kontrovers diskutiert. „Unsere Ergebnisse bringen damit den ältesten Nachweis für Tiere um fast 100 Millionen Jahre näher an die Gegenwart heran", sagt Benjamin Nettersheim, „also auf etwa 560 Millionen Jahre vor unserer Zeit." Demnach handelt es sich bei Lebewesen der Gattung Dickinsonia um die ersten Tiere, wie ein Team, an dem neben Forschern der Australian National University auch Benjamin Nettersheim und Christian Hallmann beteiligt waren, 2018 festgestellt hat.
Der spätere Startpunkt für tierisches Leben, den die aktuellen Studien nun untermauern, passt auch deutlich besser zu dem, was über die ökologischen Ansprüche von Tieren und die damaligen Umweltverhältnisse bekannt ist: „Wir wissen, dass Tiere Lebensräume mit relativ hohem Sauerstoffgehalt benötigen, um eine hohe ökologische Relevanz zu erreichen“, erklärt Christian Hallmann. „Bis zum Beginn des Kambriums vor etwa 540 Millionen Jahren gab es in den Meeren aber relativ wenig Sauerstoff.“ Was jedoch letztlich zu der kambrischen Explosion führte, bei der sich im Kambrium rapide unzählige neue Arten, darunter auch die Vorläufer aller heute bekannten Tierstämme entwickelten, bleibt umstritten – dies ist eine der Frage, die Hallmann und sein Team jetzt angehen werden.
EF/PH