Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Tübingen
Computer-Vision-Forschung deckt Stereotypen über Körperformen auf
Seien wir ehrlich: Menschen fällen vorschnelle Urteile über andere Menschen auf der Grundlage dessen, was sie sehen. Das Aussehen ist wichtig. Andere zu beurteilen, ohne etwas über ihre Persönlichkeit, ihren Charakter, ihre Erfahrung oder ihre Intelligenz zu wissen, ist ein automatischer und unwillkürlicher Prozess, dem sich niemand entziehen kann.
Diese Voreingenommenheit wirkt sich auf viele Situationen des täglichen Lebens aus. Forschungen haben gezeigt, dass gutaussehende, große und sportliche Menschen besser medizinisch behandelt werden, bessere Jobs bekommen, gnädigere Gerichtsverfahren erleben und eher in ein politisches Amt gewählt werden als eine Person ohne diesen Wahrnehmungsbonus.
Welche Körperform lässt auf eine bestimmte Charaktereigenschaft schließen?
Während bisherige wissenschaftliche Studien Gesichtszüge und die diesem Aussehen zugeschriebenen Charaktereigenschaften untersuchten, wurde jedoch kaum erforscht, wie Menschen komplette Körper anderer Personen wahrnehmen und was sie daraus ableiten. Welche Körperform lässt auf eine bestimmte Charaktereigenschaft schließen? Und könnte die Parteizugehörigkeit des Betrachters dessen Voreingenommenheit beeinflussen?
Unser Team untersuchte, ob es ähnlich wie bei Gesichtszügen einen Zusammenhang zwischen der Körperform und der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften gibt. Ja, die gibt es. Zudem fanden wir heraus, dass Körperformen je nach politischer Präferenz des Betrachters unterschiedlich wahrgenommen werden. Wir haben unsere Arbeit „Red shape, blue shape: Political ideology influences the social perception of body shape” im Juni 2021 veröffentlicht und die Forschung sogar um die Kandidatinnen und Kandidaten der Bundestagswahl im September 2021 erweitert. Die Ergebnisse sind in unserem Blog zu finden.
Experiment deckt Stereotypen auf
Wir führten zwei Online-Experimente mit jeweils mehreren hundert englischsprachigen Personen durch, die alle in den USA ansässig waren. In Experiment 1 sahen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer männliche und weibliche Körperformen an. Alle 3D-Bilder wurden mit dem statistischen Körpermodell SMPL erstellt. Dieses Modell basiert auf hochauflösenden 3D-Scans echter Menschen und ist daher metrisch und anatomisch exakt. Wie in den Abbildungen zu sehen, posierten alle Körper gleich; die Bilder unterschieden sich nur in Körperumfang und Größe. Alle Teilnehmerin und Teilnehmer bewerteten die synthetischen Körper anhand von 30 Begriffen, darunter „aggressiv“, „mitfühlend“, „vertrauenswürdig“, „intelligent“, „demokratisch" und „republikanisch“. Inwieweit trifft jeder Begriff auf die jeweilige Körperform zu?
Unter der Annahme der „Weisheit der Vielen“ enthüllte dieses Experiment mehrere Stereotypen. Abbildung 1 veranschaulicht das durchschnittliche mentale Bild, das die US-Bürger mit den einzelnen Merkmalen verbinden. Die kollektive Vorstellung eines männlichen Republikaners (ganz in rot in der unteren rechten Ecke) ist schwer, stämmig und untrainiert, während der Stereotyp eines männlichen Demokraten (ganz in dunkelblau in der oberen linken Ecke) genau das Gegenteil ist: schlank und sportlich.
Es gab zudem Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Stereotypen: die Eigenschaft „republikanisch“ korrelierte bei männlichen Körpern positiv mit „groß“, bei weiblichen Körpern jedoch negativ mit „groß“. Dies deutet auf eine geschlechtsspezifische Verzerrung hin. Einige politische Eigenschaften wurden den Körpern unterschiedlich zugeordnet, je nachdem, ob es sich um einen männlichen oder einen weiblichen Körper handelte, andere hingegen nicht: Sowohl kleine, schwere Männer als auch Frauen wurden als „unwissend“ assoziiert; große, schlanke Männer und Frauen als „intelligent“ – hier konnten wir keine geschlechtsspezifische Verzerrung feststellen.
Geschlechtsspezifische Voreingenommenheit bei Körperformen offengelegt
Die Ergebnisse des ersten Experiments zeigten, dass eine Korrelation zwischen der Körperform und der Zuschreibung von Eigenschaften besteht und dass es eine geschlechtsspezifische Voreingenommenheit gibt. Uns war jedoch noch nicht klar, ob die politische Ideologie des Beobachters in irgendeiner Weise eine Rolle spielt. Dazu führten wir ein weiteres Experiment mit neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch, fragten sie nach ihrer politischen Präferenz und teilten sie in Demokraten und Republikaner auf. Beeinflusst die politische Zugehörigkeit einer Person deren Wahrnehmung?
Experiment 2 bestätigte diese Hypothese. Wir baten eine neue Teilnehmergruppe, verschiedene Körperformen zu bewerten und fragten auch nach der Parteizugehörigkeit jedes Bewerters. So konnten wir sie in Republikaner und Demokraten einteilen. Die Ergebnisse sagen alles über die In-Group/Out-Group-Wahrnehmung aus: Eine Person weist einer anderen Person aus der gleichen Gruppe mehr positive Eigenschaften zu, und umgekehrt werden Personen aus einer Out-Group schlechtere Eigenschaften zugeschrieben. Wie in Abbildung 2 in Spalte 2 zu sehen ist, zeigt die blaue Farbe eine geometrische Nähe zum Stereotyp der Demokraten an, während die rote Farbe eine geometrische Nähe zum Stereotyp der Republikaner pro Gruppe darstellt. Wo „Republikaner“ steht, hat ein selbstidentifizierter Republikaner eine mentale Repräsentation eines anderen Republikaners, die dünner ist als die mentale Repräsentation eines selbstidentifizierten Demokraten von Republikanern. Auch ein Republikaner sieht einen Demokraten als dünn an, aber nicht so dünn wie ein Demokrat einen anderen Demokraten. Dies deutet darauf hin, dass Menschen positive Eigenschaften wie etwa Vertrauenswürdigkeit eher ihrer eigenen Peer-Group zuschreiben als der anderen.
Menschen hegen unbewusst Vorurteile gegenüber anderen aufgrund von Körperform
Es bleibt fraglich, inwieweit sich die amerikanische Voreingenommenheit auf Wähler aus anderen Kulturen übertragen lässt. Jedoch wissen wir, dass Menschen unbewusste Vorurteile gegenüber anderen hegen, die auch auf der Körperform beruhen. Das bedeutet auch, dass Wahlentscheidungen möglicherweise von der Körperform eines Kandidaten beeinflusst werden könnten. Mit unserer Forschung möchten wir das Bewusstsein für diese Voreingenommenheit schärfen.