Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie
Bilder unserer Heroen: Kennen Sie Eugen Ehrlich?
Wer sind die Heroen unserer Wissenschaften? Was wissen wir über sie? Meistens haben wir Bilder von ihnen im Kopf. Dabei meint „Bild“ nicht die bloße Abbildung einer Person, wie in einer Fotografie oder auf einer Leinwand. In den Bildern unserer Heroen fügen wir Vorstellungen zu Person und Werk, zu Äußerungen und Weltanschauungen zusammen. Sie stiften Orientierung und markieren Positionen. Manche Bilder aber gehen darüber hinaus. So wird Albert Einstein nicht allein als Autor der Relativitätstheorien wahrgenommen, vielmehr gilt er als Genie schlechthin. Die dazu passende Fotografie zeigt ihn in einer Limousine mit herausgestreckter Zunge. Dieses ikonische Bild unterstreicht den Witz, die Selbstironie und die Originalität eines großen Denkers und prägt unser Einsteinbild.
Eugen Ehrlich: Begründer, Vorvater, Haupt?
Solche Bilder pflegen auch die Juristen. Besonders aufschlussreich sind die Vorstellungen von Eugen Ehrlich als „Begründer der Rechtssoziologie“: geboren 1862 in Czernowitz (Bukowina), Gymnasium und Studium der Rechtswissenschaft in Lemberg (Galizien) und ab 1881 in Wien, ab 1896 als Professor wieder in Czernowitz, Tod 1922 in Wien. Neben dem „Rechtssoziologen“ gibt es noch zwei weitere Ehrlichbilder: „Vorvater des Rechtspluralismus“, das ist ein auf Vielfalt zielender Rechtsbegriff, und „Haupt der Freirechtsbewegung“, das war eine gesetzesskeptische Methodenströmung im frühen 20. Jahrhundert.
Das Bild vom „Rechtspluralismus-Ehrlich“ ist das jüngste. Es stammt aus den 1980er-Jahren. In dieser Zeit etablierte die Rechtsanthropologie einen neuen Rechtsbegriff. Er diente der Untersuchung indigener Sozialordnungen und ihrer Anerkennung als echtes Recht. Die Unterscheidung von Recht und (Sozial-)Ordnung stand im Fokus des damals neuen Rechtspluralismus. Als Gegenbild diente der damaligen Rechtsanthropologie der sogenannte etatistische Rechtsbegriff. Danach war Recht nur das vom Staat anerkannte Recht. Es sollte allein in staatlichen Institutionen wie Parlamenten, Gerichten oder Verwaltungen verhandelt und letztlich durch staatliche Vollzugsorgane erzwingbar sein. Das gab es in indigenen oder vormodernen Gemeinschaften in der Regel so nicht – auch wenn diese meist auf nationalstaatlichen Gebieten lebten und formal einer staatlichen Jurisdiktion unterfielen. Deshalb wurden indigene Ordnungen lange als bloße Sitten abgetan. Das war keinesfalls eine bloß theoretische Fragestellung: Die wissenschaftliche Anerkennung indigenen Rechts sollte die Rechte der Indigenen stärken und verlief parallel zu ihrer politischen Anerkennung. Ihren Höhepunkt fand sie 2007 in der UN Declaration on the Rights of Indigenous People.
Der neue und alternative Rechtsbegriff benötigte namhafte Vorläufer und so kam Ehrlich ins Spiel. Gemeinsam mit dem polnischen Anthropologen Bronislaw Malinowski und den amerikanischen Juristen Karl Llewellyn und E. Adamson Hoebel wurde er zum Vorvater gekürt.
Ehrlich – ein Klassiker?
Dreißig Jahre zuvor hatte Ehrlich bereits den Titel „Begründer der Rechtssoziologie“ erhalten. 1913 hatte Ehrlich als erster die geschlossene Darstellung einer „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ vorgelegt. Dort entwarf er den Begriff des „lebenden Rechts“ und stellte es dem abstrakt-allgemeinen Recht der Rechtssätze sowie den Entscheidungsnormen von Gerichten gegenüber. In dieser Zeit wurde nicht nur die Soziologie als Fach institutionalisiert, auch eine Rechtssoziologie etablierte sich. Deshalb erschien das Buch zahlreichen Zeitgenossen als wichtiges Werk der neuen Disziplin. Als „Begründer“ benannte ihn aber zuerst Hugo Sinzheimer. Er porträtierte Ehrlich in seinem 1938 im Exil gedruckten Band „Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft“. Gegen den nationalsozialistischen Rechtsgeist der Zeit machte Sinzheimer zahlreiche Juden wie den Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl, den Handelsrechtler Levin Goldschmidt oder den Pandektenwissenschaftler Heinrich Dernburg zu „Klassikern“. Dieses Porträt rezipierte Manfred Rehbinder 1962. Der Titel seiner wissenschaftlichen Biografie „Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich“ (1. Aufl. 1967, 2. Aufl. 1986) machte das Bild zum allgemeinen Gut.
Der „Freirechts-Ehrlich“ schließlich war das Bild seiner Zeitgenossen. 1903 hielt Ehrlich in Wien einen Vortrag über „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft“. Er machte ihn – neben Hermann Kantorowicz und Ernst Fuchs – zum „Haupt“ der Freirechtsbewegung. Ehrlich war wieder der Erste. In seinem Vortrag hatte er wichtige Forderungen des Freirechts formuliert. Es ging um eine freiere Bindung des Richters an das Gesetz und um ein neues Richterbild: der Richter als rechtsschöpfende und lebenskluge Persönlichkeit. Das alles war eine Reaktion auf eine seit 1871 stark veränderte Rechtswelt: Gesetz und Kodifikation waren zur ersten Rechtsquelle aufgestiegen, und die staatlichen Gerichte folgten einer neuen Verfassung. Nach dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 war Freirecht ein provokanter Kampfbegriff. Ehrlich stiftete das Stichwort „frei“ und verfasste die erste Programmschrift der Bewegung.
Was bleibt?
Die Ehrlichbilder sind alle auf irgendeine Weise richtig. Doch sie bleiben Bilder. Als Bilder sind sie Perspektiven verpflichtet, bilden aber nie ein vollständiges Porträt. So ist von Ehrlich als Jurist oder Romanist kein eigenes Bild überliefert. Bilder sind eben meist verkürzt und oberflächlich. Nur so gewähren sie schnelle und kurzweilige Einblicke. Darüber darf man stolpern, aber vorwerfen muss man es den Bildern nicht. Denn Bilder sind nicht wahrheitsfähig. Das zeigt ein letztes Bild: der Bukowina-Ehrlich. Kein Ehrlichbild lässt diese Habsburger Landschaft aus. Czernowitz und die Bukowina gelten als geistige Heimat und Inspirationsquelle Eugen Ehrlichs. Dort wurden Paul Celan und Rose Ausländer geboren, sogar Joseph Schumpeter lehrte dort kurz. Zugleich bot die Bukowina ein wunderbares „Multikulti“. Ehrlich benannte neun friedlich nebeneinander lebende Volksgruppen. So gibt die Bukowina den übrigen Ehrlichbildern ein romantisches und nostalgisches Flair. Dieses Bild vom Bukowina-Ehrlich ist freilich nicht falsch, höchstens ein wenig schief. Als Bild kann es ja auch nicht falsch sein. Dennoch mahnen uns die Bilder der Heroen zur Vorsicht. Sie sind wichtig und wegweisend – aber eben niemals wahr.