Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für molekulare Genetik
Proteintröpfchen als Ursache von Erbkrankheiten
Einleitung
So wie sich in einem Dressing aus Essig und Öl kleine Tröpfchen bilden, verbinden sich auch in der Zelle bestimmte Moleküle zu tropfenartigen, proteinhaltigen Gebilden, den Kondensaten. In Form von intrazellulären Kügelchen fielen sie schon vor Jahrzehnten bei mikroskopischen Untersuchungen auf. Ihre Rolle in der Zellbiologie wurde jedoch lange nicht erkannt.
Erst in letzter Zeit zeichnet sich ab, wie wichtig Kondensate sind. Tony Hyman, Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, hat hier wichtige und grundlegende Arbeiten am Fadenwurm Caenorhabditis elegans geleistet. In den letzten Jahren hat unser Labor wiederum einige wichtige Funktionen von Kondensaten bei der Genregulation aufgedeckt.
Nach heutigem Wissensstand bilden sich Kondensate aus praktischen Gründen: Die Zelle bündelt so Moleküle, die sie für eine bestimmte Aufgabe benötigt. Um zum Beispiel ein einziges Gen abzulesen, benötigt sie 300 bis 500 Proteine. Müsste sich diese gigantische Maschinerie durch reinen Zufall am richtigen Ort zusammenfinden, bräuchte es rechnerisch jeweils zehn Milliarden Jahre. In den Kondensaten dagegen sind die Moleküle bereits am richtigen Ort.
Reaktivierung von „Zombie-Viren“
Doch nicht nur Proteine, sondern auch RNA-Moleküle können die Lokalisation von Kondensaten und damit ihre Funktion entscheidend beeinflussen. Wir haben dies an endogenen retroviralen (ERV) Sequenzen untersucht, die sich im Laufe der Evolution im Erbgut von Säugetieren anhäuften, dort mutierten und somit ihre Virus-Funktionen weitestgehend verloren haben. Normalerweise sind diese Abschnitte im Genom epigenetisch ruhiggestellt. Schlägt die epigenetische Stummschaltung der Virus-Überreste jedoch fehl, können die ERV-Sequenzen wieder zu neuem Leben erwachen, was unter anderem die embryonale Entwicklung beeinflusst. Wir konnten nachweisen, dass die Boten-RNA der Virus-Gene dafür verantwortlich ist: Nachdem wir ERV-Sequenzen in embryonalen Zellen reaktivierten, kaperte deren RNA jene molekularen Maschinen, die die Informationen vom Erbgut ablesen. Diese sind nämlich zusammen mit weiteren wichtigen Faktoren in Kondensaten organisiert. Infolgedessen stellten die embryonalen Zellen andere Aufgaben ein, wie beispielsweise das Ablesen von embryonalen Entwicklungsgenen.
In hochauflösenden mikroskopischen Aufnahmen konnten wir beobachten, dass sich die gekaperten Kondensate bevorzugt an denjenigen Orten aufhielten, an denen sich auch die reaktivierten ERV-Gene befanden. Entfernten wir die Virus-RNA experimentell aus den Zellen, wanderten die Tröpfchen zurück an ihre angestammten Plätze. Wir stellten fest, dass die Verlagerung der Kondensate hin zu den ERVs negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Mäuse-Embryonen hatte. So verloren etwa Stammzellen ihre typische Eigenschaft, sich in jede andere Zelle weiterentwickeln zu können, weil entsprechende Gene nicht mehr aktiv waren. Dieser entfesselte Zustand von ERVs steht auch im Zusammenhang mit Krankheiten wie Fettleibigkeit über verschiedene Krebsarten bis hin zu neurologischen Erkrankungen wie amyotropher Lateralsklerose und Schizophrenie.
Eine Ursache von Synpolydaktylie
Ein Beispiel, wie dysfunktionale Kondensate unmittelbar zu einer Krankheit führen, haben wir anhand eines mutierten Gens aus der HOX-Familie untersucht. HOX-Gene sind Transkriptionsfaktoren und aktivieren gezielt Gene. Sie steuern die Symmetriebildungen des Körpers und damit auch die Anzahl von Fingern und Zehen. Betroffene mit einem mutierten HOXD13-Gen können überzählige, miteinander verwachsene Finger ausbilden (Synpolydaktylie). Wir konnten experimentell die molekularen Abläufe aufklären, die zum Krankheitsbild des Gendefekts führen. HOX-Proteine bestehen aus unterschiedlichen Abschnitten, von denen einige eine feste dreidimensionale Struktur aufweisen, während andere als intrinsisch ungeordnete Regionen (IDR) keine definierte Form haben. Diese flexiblen Anteile hängen aus dem Protein heraus wie gekochte Spaghetti und sind für die Bildung von Kondensaten entscheidend. Bei Erkrankten mit Synpolydaktylie ist dieser Fortsatz des Proteins übermäßig lang. Während die HOXD13-Moleküle von gesunden Personen 15 Bausteine der Aminosäure Alanin besitzen, ist ihre Anzahl bei Erkrankten um mindestens sieben weitere Einheiten erhöht. Das Mischungsverhältnis in den molekularen Kondensaten ist dadurch gestört: Je länger der Molekülschwanz, desto stärker verdrängt das modifizierte Protein seine Bindungspartner aus den Kondensat-Tröpfchen.
Die Ergebnisse unserer Forschung zeigen, dass Kondensate direkt mit der Entstehung von Krankheiten in Zusammenhang stehen können. Unsere Arbeit zu den Ursachen der Synpolydaktylie wirft wahrscheinlich nur ein Schlaglicht auf das noch weitgehend unbekannte Reich der Kondensate. Dass auch andere Krankheiten durch eine veränderte Zusammensetzung zellulärer Kondensate verursacht werden, ist sehr wahrscheinlich, da auch andere wichtige Steuerproteine die Zusammensetzung von Kondensaten über die Länge ihrer „Molekülschwänze“ bestimmen: Ist ihre Länge verändert, behindert das ihre Funktion. Daher werden wir auch in Zukunft weiter intensiv an diesen faszinierenden Gebilden forschen.