Madagaskar greift nach den Sternen
Astronomische Observatorien benötigen meist abgelegene Standorte ohne menschliche Störfaktoren. Deswegen stehen viele davon in afrikanischen Ländern. Die Forschung allerdings findet überwiegend im globalen Norden statt. Trotzdem kann schon die Aussicht, Standort eines Observatoriums zu werden, in einem Land wie Madagaskar Bildung und Wissenschaft in Bewegung bringen – so die Erkenntnisse von Hanna Nieber vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung.
Text: Jeannette Goddar, © Max-Planck-Gesellschaft
Es ist ein Projekt der Superlative. Hunderte Parabolspiegel und mehr als 100 000 Antennen werden seit dem vergangenen Jahr in entlegenen Regionen Südafrikas und Australiens installiert, fernab von Städten und menschengemachter Radiostrahlung. Ein Radioteleskop der Superlative sollen sie bilden, beinahe so groß wie der Globus selbst; so vielfältig und empfindlich, dass eine Kartierung unserer Milchstraße ebenso möglich wird wie ein Blick auf die Entwicklungen nach dem Urknall. Getragen wird das Square Kilometre Array Observatory (SKAO) von einer Organisation mit dreizehn Mitgliedern; eines von ihnen ist die Max-Planck-Gesellschaft. Geht alles glatt und das SKAO 2028 in Betrieb, erfüllt sich für die Forschenden in der Radioastronomie ein Traum, der sie schon seit den 1990er-Jahren begleitet. Und einer, an dem sie seit Langem arbeiten.
Das macht eine Geschichte deutlich, der die Ethnologin Hanna Nieber in ihrem Forschungsprojekt „Constellations for Astronomy in Madagascar“ nachspürt. Schon drei Jahre bevor der SKAO-Zuschlag erteilt wurde, machten sich aus Südafrika Astronomen nach Madagaskar auf, das eines von acht Partnerländern werden sollte. Die Mission der Forschenden: ein Treffen mit Minoson Rakotomalala, Professor für Teilchenphysik an der Universität von Antananarivo. Ob er sich vorstellen könne, in der Hauptstadt Madagaskars einen Studiengang für Astronomie einzurichten? Wie hoch die südafrikanischen Besucher die Chancen ihrer Mission einschätzten – in einem Land mit einer Studienanfängerquote von unter fünf Prozent und einem der niedrigsten Bruttoinlandsprodukte der Welt –, kann man nur vermuten. Doch es klappte. „Seit 2014 starten jedes Jahr sechs Physik-Bachelors in ein Masterstudium der Astrophysik“, erzählt Hanna Nieber. Diejenigen, die danach eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben, zieht es meistens nach Kapstadt, wo das SKAO intensiv wissenschaftlich begleitet wird.
Neue Erkenntnisse im Gepäck
Hanna Nieber, Postdoktorandin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle machte sich 2022 zur Feldforschung nach Madagaskar und Südafrika auf. Sie kam über einen Master in Afrikawissenschaften zur Ethnologie; ihr Interesse an diesem Kontinent ist indes teils biografisch bedingt. Ihren Schulabschluss machte sie in Swasiland. Nach einer Promotion zu islamischen Praktiken in Sansibar entdeckte sie die Astronomie für sich. In einem Satz beschreibt sie ihr aktuelles Forschungsprojekt so: „Ich wollte herausfinden, was in Antizipation eines solchen Megaprojekts geschieht.“ Zumal in Madagaskar, einem Land, in dem die Rahmendaten selbst im innerafrikanischen Vergleich ernüchternd sind: Zwei von drei Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze; schon bevor Zyklon Freddy zu Jahresbeginn mehrfach über die Insel raste, identifizierten die Vereinten Nationen Madagaskar als eins der zehn am stärksten von Naturkatastrophen betroffenen Länder weltweit. In den ländlichen Regionen leben die meisten Familien von dem, was die Erde unter diesen Bedingungen hergibt. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef besuchen drei von zehn Kindern nicht einmal die Grundschule, weitere drei schließen diese nicht ab.
Hanna Nieber warnt jedoch davor, aus statistischen Daten falsche Rückschlüsse auf die gesamte Bevölkerung zu ziehen: „Auch in Madagaskar gibt es eine akademisch gebildete Mittelschicht.“ So durchlaufen bei 30 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern immer auch eine größere Anzahl Menschen eine akademische Bildung. Laut einer Übersicht des Hochschul- und Forschungsministeriums Madagaskars gibt es sechs staatliche Universitäten und nahezu 150 private Einrichtungen der höheren Bildung. Fast alle befinden sich in der Hauptstadt Antananarivo, vor Ort kurz Tana genannt. „Im Grunde leben alle, die über mehr Geld als der Durchschnitt verfügen, in Tana“, berichtet Nieber.
Leidenschaft für Astronomie teilen
Aus dieser Mittelschicht heraus haben sich in Tana in den ersten Jahren nach Einführung des Studiengangs in Astronomie gleich zwei Vereine gegründet, die sich der Förderung des Faches verschrieben haben. Die Wurzeln des größeren, Malagasy Astronomy and Space Science (Mass), reichen sogar bis in das Jahr 2009 zurück. Hanna Nieber berichtet von mehr als hundert Mitgliedern, die regelmäßig die aktuellen Forschungsergebnisse diskutieren unter ihnen Studierende der Astronomie, aber auch Bachelorstudentinnen und -studenten aus zahlreichen anderen Fächern. Auch unter den jungen Madagassen, die heute als Promovierende oder Postdocs in Kapstadt forschen, sind sehr viele bei Mass aktiv. Immer wieder kämen sie mit neuen Erkenntnissen im Gepäck zurück in ihre Heimat gereist, hat Hanna Nieber beobachtet. Sie sagt: „Wie eng dieser Austausch ist, das hat mich tatsächlich überrascht.“
Der andere Verein heißt Haikintana, ist wesentlich kleiner und widmet sich so etwas wie aufsuchender Bildungsarbeit. „Seine Mitglieder ziehen in die Dörfer und gehen in Schulen, um Menschen die Astronomie nahezubringen“, erzählt Nieber. Und sind sie nicht unterwegs, lassen sie in einem überaus aktiven Facebook-Kanal keinen Anlass aus, ihre Leidenschaft für Astronomie zu teilen. Partielle Mondfinsternisse werden ebenso angekündigt wie Raumfahrtstarts der Esa oder der Nasa oder internationale Kongresse der astronomischen Jugend. Auch mit kleinen Filmen weckt Haikintana das astronomische Interesse. In einem der Videos sitzt eine junge Frau im Freien unter einer Palme; im Hintergrund werden immer wieder Bilder eingeblendet: von einer „Fiebermess-Pistole“, wie sie auch in Madagaskar in der Pandemie allerorten im Einsatz waren; von Menschen, die die dabei gemessenen Temperaturen ablesen. In nur rund zwei Minuten erklärt die junge Frau auf diese Weise Grundlagen der Infrarottechnik, die Basis der berührungslosen Temperaturmessung. Der Bezug zur Astronomie? Es war der deutsch-britische Astronom William Herschel, der Anfang des 19. Jahrhunderts die Infrarotstrahlung entdeckte.
Das Ziel: mehr Interesse an Naturwissenschaften
Beide Vereine finanzieren sich über ihre Mitglieder, gelegentlich bewerben sie sich erfolgreich um Förderungen, etwa bei der Internationalen Astronomischen Union. Und sind eigentlich viele Frauen dabei?, will man noch von Nieber wissen. Ja, da lasse sich kein Unterschied zu der Beteiligung von Männern feststellen, sagt sie und fügt hinzu: „Mein Eindruck ist: Wer in globalen akademischen Diskursen und Strukturen unterwegs ist, kann die Frage der Geschlechtergerechtigkeit kaum noch außer Acht lassen.“
Das Engagement beider Vereine besteht nicht trotz, sondern gerade wegen der in vieler Hinsicht prekären Lage in ihrer Heimat. „Klimawandel, Korruption, eine instabile politische Landschaft: Meine Gesprächspartner fragen sich natürlich auch: Wie können wir es uns leisten, von der Erde wegzuschauen?“, berichtet die Ethnologin. Die Antwort, die sie sich selbst geben: „Sie gehen von einer inhärenten Begeisterung für den Sternenhimmel aus. Die wollen sie nutzen, um mehr Interesse an den Naturwissenschaften, und am besten auch am Ingenieurwesen zu wecken. Wenn das gelingt, so die Logik, leistet das einen großen Beitrag zu Madagaskars Entwicklung – und die liegt allen, mit denen ich spreche, sehr am Herzen.“ Dieses Anliegen teilt ausdrücklich auch die Trägerorganisation des SKAO.
Niemand war stolz, zu Afrika zu gehören
Nun kann das nur gelingen, wenn es eine solche „inhärente Begeisterung“ wirklich gibt. Hilft dabei, dass Menschen ihr Schicksal seit Jahrtausenden von Sternbildern und Himmelskörpern geprägt sehen? „Die Astronominnen und Astronomen, die ich spreche, weisen eine Verbindung zur Astrologie weit von sich“, sagt Nieber. „In allen anderen Gesprächen kommen mythologische Vorstellungen tatsächlich sofort zur Sprache.“ Die Feldforscherin hört von Dörfern im Hochland, deren Bauweisen von Sternbildern bestimmt sind und sich historisch bis zu den Schlössern des vorkolonialen Königreichs Merina zurückverfolgen lassen: „Typischerweise sind der Ein- und Ausgang nach Westen gerichtet; im Nordosten hingegen wird auch heute noch mancherorts ein Raum für die Ahnen frei gehalten.“ Derlei Erkenntnisse sind allerdings bisher kein Teil ihrer Forschung, „Es ist gut, diese Geschichten zu kennen, und ich höre sie mit Interesse“, sagt sie. „Doch um dazu zu forschen, fehlt es mir an Sprachkenntnissen. Dazu bräuchte es weitere Forschungskooperationen – was natürlich toll wäre.“
Nieber beherrscht zwar mit Swahili die am weitesten verbreitete Verkehrssprache Ostafrikas. Doch mit dieser oder anderen Bantusprachen ist das Madagassische nicht verwandt. Es ist eher nah dran am Malaiischen, das in Malaysia und Indonesien gesprochen wird. Auch kulturell grenzen sich die Madagassen von Afrika ab, sehen ihre Insel fast als eigenen Kontinent an. Einerseits kann das bei 400 Kilometern bis zur Küste Mosambiks und einer Fläche, die 1,6-mal jener Deutschlands entspricht, nicht überraschen. Andererseits ist Madagaskar ein afrikanischer Staat und Mitglied der Afrikanischen Union. „Aber niemand dort war stolz, Afrikanerin oder Afrikaner zu sein“, hat Hanna Nieber vor Ort erfahren. „Mit dem SKAO ändert sich das. Nun kommt etwas aus Afrika, was hip, toll und cool ist. Und: das eine Zukunft bietet, die man sich in Madagaskar bisher nicht vorstellen konnte“, erzählt sie.
„Für eine universelle Astronomie braucht es viele Teleskope – und die Teilhabe vieler Menschen. An vielen Orten des Planeten.“
Hanna Nieber
Mit dem wissenschaftlichen Austausch nähert sich zudem ein Diskurs, der in vielen Ländern des globalen Südens bereits an Fahrt aufgenommen hat: Braucht es nach Jahrhunderten der Fremdbestimmung nicht auch ein Entrümpeln der aus weißen Blickwinkeln erforschten Wissensbestände: eine „Dekolonisierung des Wissens“? Innerhalb Afrikas nimmt das bis 1994 von Apartheid geprägte Südafrika hier eine führende Rolle ein. Als Studierende in Kapstadt 2015 gegen eine Statue des britischen Imperialisten Cecil Rhodes auf dem Uni-Campus protestierten, machte das auch in deutschen Medien Schlagzeilen. In der akademischen Welt hätten die „Rhodes Must Fall“-Demonstrationen zu einer Bewegung geführt, die bis heute die Frage stelle, was an Hochschulen gelehrt und wie mit tradierten Wissensbeständen umgegangen werden soll, berichtet Nieber. Folgt man diesen Ideen nun auch in Madagaskar, das von 1896 bis 1958 französische Kolonie war? „Nein“, erwidert sie, „doch man diskutiert darüber, interessanterweise bisher mit einem anderen Ergebnis als in Südafrika: Die Wissenschaft wird als etwas betrachtet, was jenseits von Dekolonisierung und Partikularisierung Bestand haben sollte.“
So lassen sich, stellt man überrascht fest, aus etwas Fernliegendem wie der Astronomie eine Menge ethnologische Erkenntnisse gewinnen. Hanna Nieber verblüfft das nicht so sehr, sie muss ein bisschen lachen: „Das Zusammendenken von Konzepten aus Geistes- und Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften ist mein schönstes Forschungsziel.“ Aktuell denkt sie vor allem über das in den Disziplinen ganz unterschiedlich betrachtete Konzept von Universalität nach. Während Astronominnen und Astronomen meist davon ausgingen, Wissenschaft sei weder an Person noch Standort gebunden, also universell, sähen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler das in aller Regel anders: „Für uns ist Wissenschaft kontextgebunden, gekoppelt an Faktoren wie Standort, Kultur, Klasse“, erläutert sie. Mit Blick auf das SKAO, an dem zugleich in Australien und Afrika geschraubt wird, fällt es der Ethnologin leicht, ihre Position zu übertragen: „Wer ein Teleskop hat, sieht nur einen Teil des Himmels. Doch für eine universelle Astronomie braucht es viele Teleskope – und die Teilhabe vieler Menschen. An vielen Orten des Planeten.“
Auf den Punkt gebracht
Seit der Nominierung Madagaskars zum Standort des Teleskop-Großprojekts SKAO wächst im Land das Interesse an Astronomie.
Die Menschen hoffen, dass diese Begeisterung auch in anderen Bereichen die Entwicklung ihres Landes voranbringt.
Durch die Projektzusammenarbeit mit anderen Ländern Afrikas hat sich in Madagaskar erstmals ein Gefühl der Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent entwickelt.
Erschienen in MaxPlanckForschung, Heft 2/2023