Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
„Hamburger Leitlinien“ bieten Orientierung in internationalen Rechtsstreitigkeiten
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg
Globalisierung, europäischer Binnenmarkt und Migration prägen heute ganz selbstverständlich die Rechtsbeziehungen von Menschen und Unternehmen. Dass deutsche Gerichte damit immer häufiger über internationale Sachverhalte zu entscheiden haben, dürfte niemanden erstaunen. Weniger bekannt ist hingegen, dass die Richterinnen und Richter hierbei aufgrund der Vorschriften des „Internationalen Privatrechts“ oftmals gar nicht das deutsche Recht, sondern ein ausländisches Recht zugrunde legen müssen. So kann beispielsweise die Frage, ob ein deutsches Unternehmen seinem englischen Vertragspartner Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung der versprochenen Metallröhren schuldet, aufgrund einer von den Parteien getroffenen Rechtswahl nach englischem Recht zu beurteilen sein. Erhebt eine auf den Cayman Islands gegründete Gesellschaft in Deutschland eine Klage, kann fraglich sein, wer nach dem Recht der Cayman Islands zur Vertretung der Gesellschaft befugt ist. Hatte ein deutscher Erblasser während eines Urlaubsaufenthalts auf Zypern ein Testament errichtet, das nicht den deutschen Formerfordernissen entspricht, muss das Gericht zu klären, ob es immerhin den Anforderungen genügt, die am Errichtungsort gelten.
Die Anwendbarkeit ausländischen Rechts führt zu einem offensichtlichen Problem: In Deutschland ausgebildete Richterinnen und Richter kennen sich in diesem Recht in aller Regel nicht aus. Dennoch erwartet die Zivilprozessordnung von ihnen, dass sie sich diese Kenntnis notfalls verschaffen. Immerhin stellt sie ihnen hierzu eine Reihe von Hilfsmitteln zur Verfügung. Das schlagkräftigste, freilich auch aufwändigste unter ihnen ist das Sachverständigengutachten. Das Gericht beauftragt eine Person mit besonderer Expertise zum gesuchten ausländischen Recht, stellt ihr konkrete Fragen zum ausländischen Recht und erhält dann hoffentlich die zur Entscheidung des Rechtsstreits nötigen Antworten. Bei den ernannten Sachverständigen handelt es sich in der Regel um Angehörige von deutschen Hochschulen oder wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg.
Die Gutachtenpraxis
Die Einholung und Verwertung von Gutachten zum ausländischen Recht hat in der deutschen Gerichtspraxis jahrzehntelange Tradition und genießt auch im Ausland grundsätzlich einen guten Ruf. Wer die Gutachtenpraxis aus der Innenperspektive kennt, weiß allerdings, dass das System zu Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts an manchen Stellen knirscht und ineffizient ist. So sind sich die Beteiligten – Gerichte, Sachverständige, Parteien – nicht immer klar über ihre jeweiligen Rollen und deren Zusammenspiel; die Folge sind unnötige Kosten und Verzögerungen. Zudem fällt es der Wissenschaft oft schwer, die hohe Nachfrage nach Gutachten zum ausländischen Recht zeitnah zu decken.
Solche Probleme boten Ralf Michaels und mir Anlass, uns mit erfahrenen Vertretern aus Wissenschaft und Praxis zusammenzutun und eine Art best practices des Umgangs mit ausländischem Recht niederzuschreiben. Das Ergebnis sind die „Hamburger Leitlinien zur Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts in deutschen Verfahren“,[1] die am 9. Oktober 2023 am Hanseatischen Oberlandesgericht vorgestellt wurden. Sie sind im Internet frei zugänglich, es gibt sie aber auch als gedruckte Broschüre. Ein in Heft 1-2/2024 erschienener Aufsatz in der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ stellt die Hamburger Leitlinien dem Fachpublikation detailliert vor.[2]
Ziele der Hamburger Leitlinien
Mit den Hamburger Leitlinien werden im Wesentlichen zwei Ziele verfolgt. Erstens soll allen Beteiligten Orientierung geboten und der Umgang mit ausländischem Recht rechtskonform, transparent und effizient gestaltet werden. Das zweite Hauptanliegen besteht darin, gerade auch die Alternativen zum Beweismittel des Sachverständigengutachtens aufzuzeigen und Gerichte zu ermutigen, in einfach gelagerten Fällen das ausländische Recht selbst zu ermitteln (z. B. mithilfe von inzwischen reichhaltig vorhandener deutscher Literatur zum ausländischen Recht, Internetquellen sowie Übersetzungsprogrammen). Für Gerichte und Verfahrensparteien läge der Nutzen in einer Ersparnis von Kosten und Zeit, für die wissenschaftlichen Institute in einer Verringerung der Gutachtenlast.
Damit die Leitlinien diese Ziele in möglichst weitem Umfang erreichen können, haben wir bei ihrer Formulierung großer Wert auf Nutzerfreundlichkeit gelegt. So ermöglicht die Gliederung nach den verschiedenen Adressaten (Gerichte, Sachverständige, Parteien), sich leicht innerhalb der Leitlinien zurechtzufinden. Zudem werden die einzelnen Handlungsempfehlungen auf einer optisch abgesetzten Ebene vielfach näher erläutert und durch Beispiele illustriert.
Die ersten Reaktionen seitens Justiz und Wissenschaft auf die Hamburger Leitlinien waren durchweg sehr positiv. Ob diese in der Praxis tatsächlich berücksichtigt werden und den gewünschten Effekt erzielen, bleibt indes noch abzuwarten. Erfahrungsgemäß dauert es einige Zeit, bis sich Neuerungen in den Köpfen der Juristen und Juristinnen festsetzen. Ralf Michaels und ich werden die mit den Hamburger Leitlinien gemachten Erfahrungen genau verfolgen und sie als Grundlage für eine künftige Weiterentwicklung nehmen.