Die große Schmelze
Forschende haben ein Modell entwickelt, mit dem sich der Einfluss langfristiger Veränderungen der Gletscher auf das Klima berechnen lässt
Der Klimawandel lässt die Eisschilde Grönlands und der Antarktis schmelzen und den Meeresspiegel steigen. Inselstaaten und Küstenstädten könnte das zum Verhängnis werden. Wie stark die Eiskappen schrumpfen, hängt auch von den Rückkopplungen zwischen ihnen und dem Klimasystem ab. Diese Effekte untersuchen Marie-Luise Kapsch und Clemens Schannwell am Max-Planck-Institut für Meteorologie.
Text: Klaus Jacob
Von wegen „ewiges Eis“: An den Polen herrscht Tauwetter. In der Arktis steigen die Temperaturen zwei- bis dreimal so schnell wie im globalen Mittel. Die Wärme setzt nicht nur dem Meereis zu, sodass immer mehr Schiffe die Nordwestpassage befahren können, den Seeweg durch das Nordpolarmeer, der Atlantik und Pazifik verbindet. Auch der Eisschild, der Grönland bedeckt, muss erhebliche Verluste hinnehmen – mit weltweiten Folgen: Wenn die Gletscher schmelzen, steigt der Meeresspiegel.
Wie kritisch die Situation ist, hat sich am 14. August 2021 gezeigt: An diesem Tag meldete die am höchsten gelegene Wetterstation Grönlands, dass es regnete. Das hatte es hier seit Beginn der Wetteraufzeichnungen noch nie gegeben – 3216 Meter über dem Meer. Das Eis schmolz auf der gesamten Insel. Auf dem Höhepunkt der Hitzewelle 2021 verlor der Eispanzer gut 12 Milliarden Tonnen, also etwa 12,5 Kubikkilometer, an einem einzigen Tag.
Die Antarktis schmilzt
Auf der anderen Seite des Globus, wo über die Hälfte des Süßwassers der Erde im Eis gebunden ist, sieht es ähnlich prekär aus. Allein im Hitzesommer 2019 schmolzen in der Antarktis 168 Milliarden Tonnen, wie die Ice Sheet Mass Balance Intercomparison Exercise angibt. Nach deren Berechnung haben die Eisschilde von Antarktis und Grönland zwischen 1992 und 2020 insgesamt 7560 Milliarden Tonnen Eis verloren, das entspricht einem Würfel mit einer Kantenlänge von 20 Kilometern. Dadurch ist der Meeresspiegel um 21 Millimeter gestiegen, wobei Grönland den größten Teil, rund 13,5 Millimeter, beigesteuert hat. Noch trägt die Ausdehnung des Wassers durch die Erwärmung zum Meeresspiegelanstieg mehr bei als die Gletscherschmelze, in diesem Zeitraum waren es rund 35 Millimeter. Das Verhältnis könnte sich jedoch bald umdrehen.
Die Veränderungen betreffen weltweit rund 300 Millionen Menschen: Sie leben in Regionen, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen. Millionenstädte wie New York oder Djakarta, Shanghai oder Amsterdam sind gefährdet. Dazu kommt, dass mit dem Klimawandel die Stürme an Gewalt zunehmen und die Wellen tiefer ins Land treiben, sodass jeder Zentimeter Meeresspiegelanstieg gewissermaßen doppelt zählt. Es braucht verlässliche Prognosen, wie sich der Meeresspiegel in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten verändern wird und wie sich die Eiskappen verhalten werden. Doch dabei gibt es viele Fragezeichen. Vor allem die Schmelzraten der Eisschilde lassen sich nur mit großen Unsicherheiten ermitteln, auch weil lange Datenreihen aus den Kältezonen der Erde fehlen.
Der Weltklimarat IPCC prognostiziert in seinem Sechsten Sachstandbericht, abhängig von der Entwicklung der Treibhausgasemissionen, bis 2100 einen wahrscheinlichen Anstieg von einem halben bis einem Meter im Vergleich zu 1900. Die Vorhersagen berücksichtigen allerdings noch nicht die Rückkopplungen zwischen Eisschilden und Klimasystem. Es könnte also noch schlimmer kommen.
Das Team um Marie-Luise Kapsch hat nun ein Klimamodell so erweitert, dass es die Veränderung der Eisschilde in der Vergangenheit und in der Zukunft berücksichtigt. Um zu verstehen, wie sich Eisschilde und Klima gegenseitig beeinflussen, hilft ein Blick in die letzte Kaltzeit des Eiszeitalters, die umgangssprachlich als letzte Eiszeit bezeichnet wird. Sie begann vor etwa 115 000 Jahren und endete vor etwa 11 500 Jahren. Damals gab es ein Phänomen, das zusätzliche Probleme verursacht, sich aber nur schwer in Gleichungen fassen lässt: Das Eis kann instabil werden und zu abrupten Klimaveränderungen führen.
Heinrichereigniss – das Eis gerät ins Rutschen
Der deutsche Meeresgeologe und Klimatologe Hartmut Heinrich hatte schon früh solche Ereignisse aufgespürt. Als er 1988 Sedimente auf dem Grund des Atlantiks untersuchte, stieß er auf Ablagerungen, die offenbar aus Nordamerika stammten. Dafür fand er nur eine vernünftige Erklärung: Eisberge waren auf dem Wasser gedriftet und hatten beim Schmelzen das eingeschlossene Gesteinsmaterial verloren. Das Seltsame dabei: Die Sedimente waren nicht kontinuierlich herabgerieselt, sondern schubweise. Offenbar waren innerhalb kurzer Zeit immer wieder große Mengen Eis vom Laurentidischen Eisschild, der während der letzten Kaltzeit große Teile Nordamerikas bedeckte, ins Meer gerutscht.
Diese Perioden nennt man inzwischen Heinrichereignisse. Sie wirkten sich auch auf das Klima in den angrenzenden Regionen aus. Denn das Süßwasser, das dabei in die Ozeane gelangte, änderte Meeresströmungen und damit den Wärmetransport über den Globus. Diese Ereignisse zeigen, dass es schon vor den menschlichen Eingriffen in das Klima Schwellen gab, bei deren Überschreitung massive Klimaveränderungen angestoßen wurden. Auch in Zukunft könnten die Eisschilde instabil werden. Solche Instabilitäten sind in der Öffentlichkeit als Kipppunkte bekannt geworden. Ob und, wenn ja, in welchen Teilen des Erdsystems wie dem Amazonasregenwald, den sibirischen Permafrostböden oder den Eisschilden es in der nahen Zukunft Kipppunkte geben wird, ist noch unklar. Auch wie sich ihr Überschreiten auswirken könnte, wird in der Klimaforschung noch diskutiert.
Kompromiss im Klimamodell
Wenn es darum geht, das künftige Klima zu ermitteln, setzt die Wissenschaft auf Computermodelle, die immer mehr Facetten der Realität wiedergeben. Es liegt nahe, auch die Veränderungen der Eisschilde in die Berechnungen einzubauen. Doch hier stoßen die Rechner an ihre Grenzen. Denn während sich das Klima relativ rasch ändert, verhält sich das Eis ausgesprochen träge. Lange Zeiträume mit komplexen Klimamodellen durchzurechnen überfordert selbst heutige Supercomputer. Zudem lassen sich Veränderungen der Eisschilde und ihre Folgen nur schwer in herkömmliche Klimamodelle einbauen. Bisher hat man sich daher damit begnügt, die Eisschilde in ihrer Form konstant zu belassen. Das schien eine gute Näherung zu sein, weil merkliche Veränderungen Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauern. Doch Beobachtungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass selbst kleine Veränderungen der Eisschilde erhebliche Effekte zumindest auf das lokale Klima haben können.
Die Meteorologin Marie-Luise Kapsch, die am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie die Rolle von Eisschilden im Klimasystem erforscht, hat deshalb mit Kollegen ein Modell entwickelt, das auch Veränderungen im Eis berücksichtigt. Es ist sowohl räumlich als auch zeitlich gröber aufgelöst als die üblichen Klimamodelle – „ein Kompromiss“, räumt Kapsch ein. Doch mit diesem Modell lassen sich Jahrtausende überblicken. Vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen auch Forschende, die möglichen Kipppunkten im Erdsystem nachspüren.
Wer in die Zukunft schauen will, muss jedenfalls zunächst die Vergangenheit betrachten. Denn ob ein Modell die Wirklichkeit wiedergibt, lässt sich an einem Zeitraum testen, von dem die Entwicklungen halbwegs bekannt sind. Mit dem Max-Planck-Modell ist es sogar gelungen, Heinrichereignisse darzustellen, also den Kollaps von Eisschilden. Dabei war die Ausgangssituation während der letzten Kaltzeit anders als heute. Eine kilometerhohe Eisschicht bedeckte Nordamerika und den Norden Eurasiens, der Meeresspiegel lag mehr als 100 Meter tiefer als heute. Zum Kollaps kam es immer dann, wenn die Last des Eises zu groß wurde, wenn das Eis unter seinem eigenen Gewicht sozusagen in die Knie ging. Die Last führte zu einer Schmelze an der Unterseite der Gletscher, was wie eine Schmierung wirkte – und gewaltige Eisflüsse in Bewegung setzte. Die großen Süßwassermengen, die dann in den Nordatlantik gelangten, kühlten nicht nur den Nordatlantik ab. Auch die atlantische Zirkulation geriet ins Stocken, die Niederschlagsfelder veränderten sich, und der Jetstream nahm einen neuen Verlauf.
Ähnliche Eisverluste wie die Heinrichereignisse sind auch heute noch möglich, sagt Kapsch, allerdings in wesentlich kleinerem Maßstab. Derzeit spielen andere Faktoren die Hauptrolle beim Eis. Es scheint, als würden durch den Klimawandel die Bremsen gelockert, die bisher die Gletscher der Antarktis am Abfließen ins Meer gehindert haben. So schwindet an vielen Stellen das Schelfeis, das als Fortsetzung der Eisschilde ins Meer hinausragt. Das führt zwar nicht zu einem Anstieg des Meeresspiegels, aber die Gletscher werden so nicht mehr zurückgehalten und fließen schneller in den Ozean. Auch der unebene Meeresboden kann bremsend wirken. In der Antarktis kriechen die Gletscher weite Strecken auf dem Meeresboden, doch jeder Buckel hält den Eisfluss auf. Von diesen Bodenwellen gibt es rings um die Antarktis rund 700. Clemens Schannwell, ein Kollege von Kapsch, hat einige davon untersucht.
Gelockerte Eisbremse
Ein Ergebnis: Auch diese Bremse verliert an Effizienz. Denn die Gletscher werden dünner und leichter, weil sie schmelzen. So verlieren sie früher den Bodenkontakt und schwimmen über die Bodenunebenheiten. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel und verstärkt den Effekt. Denn dadurch verliert das Eis schon weiter im Landesinneren den Bodenkontakt. Obendrein fällt der Meeresboden an manchen Stellen landeinwärts ab, weil das schwere Eis die Erdkruste eindrückt. So kann das Meer die Gletscher von unten annagen. Letztlich gelangen so immer mehr Schmelzwasser und Eis in den Ozean, was den Meeresspiegel anhebt und so bewirkt, dass noch mehr Eis verloren geht. „Der Prozess ist anfällig für eine verstärkende Rückkopplung“, sagt Schannwell.
Hat der Schmelzprozess einen Schwellenwert überschritten, lässt er sich vielleicht nicht mehr aufhalten. „In der Westantarktis ist der kritische Punkt möglicherweise schon überschritten“, sagt Schannwell. Die Simulation habe aber auch ergeben, dass es Jahrhunderte oder Jahrtausende dauert, bis die Westantarktis eisfrei sein wird. Und sie habe gezeigt, dass die Entwicklung nicht kontinuierlich verläuft, sondern in Schüben.
Auch am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung wird die Entwicklung der Eisschilde erforscht, und zwar mit einem Eismodell. Die Forschenden dort haben sich die letzten Warmzeiten angeschaut, die vergleichbar mit der heutigen Zeit sind. Ein Ergebnis: Steigt die globale Mitteltemperatur um weitere 0,5 Grad, kann es zu einem Kollaps der Eismassen auf der Westantarktis kommen, sagt Torsten Albrecht. Er gehört zur Arbeitsgruppe von Ricarda Winkelmann, die vor Kurzem als Gründungsdirektorin ans Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena gewechselt ist. Allerdings seien solche Ergebnisse mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.
Kleine Änderung, große Wirkung
Schon kleine Veränderungen der Anfangsbedingungen führen langfristig zu erheblichen Unterschieden. Auch hat in der Vergangenheit offenbar die Geschwindigkeit der Veränderungen eine Rolle gespielt. Es gebe also die Hoffnung, meint Albrecht, dass die Westantarktis trotz Überschreitens einer Temperaturschwelle, bei der ein Kipppunkt zu erwarten ist, stabil bleibe, wenn die Menschen nur schnell genug gegensteuern.
„In der Westantarktis ist der kritische Punkt möglicherweise schon überschritten.“
Clemens Schannwell
Für Europa ist der grönländische Eisschild noch wichtiger als der in der Antarktis. Auch er könnte instabil werden und komplett verschwinden. Ob und wann dieser Kipppunkt droht, lässt sich nur schwer ermitteln. Es drauf ankommen zu lassen ist jedoch riskant. Denn im Nordatlantik sitzt ein Motor, der den vom Golfstrom gespeisten Nordatlantikstrom antreibt – unsere Zentralheizung, die Wärme vom Westatlantik in den Nordosten transportiert. Große Mengen Süßwasser, die vom grönländischen Eisschild in den Nordatlantik fließen, senken dessen Salzgehalt und Dichte. Eine relativ hohe Dichte des nordatlantischen Meerwassers ist aber Voraussetzung dafür, dass letztlich auch der Nordatlantikstrom im Fluss bleibt. Schwächte dieser sich ab oder käme gar zum Erliegen, würde sich das Klima vor allem in Europa fundamental ändern. Langfristig dürfte die Durchschnittstemperatur hier sogar um einige Grad fallen, sollte aus dem Westatlantik keine Wärme mehr zugeführt werden. Wie Messungen eines Teams unter anderem vom PIK zeigen, sind die Umwälzbewegungen im Atlantik schon langsamer geworden. Ein Abbruch der Nordatlantikströmung gilt allerdings auch bei fortschreitendem Klimawandel als sehr unwahrscheinlich.
Allianz zwischen Meereis und Temperatur
Schon heute lassen sich hingegen in den hohen Breiten einige Rückkopplungen eindrucksvoll beobachten, die den Klimawandel und den Eisverlust verstärken. Einer dieser Rückkopplungsmechanismen ist die Allianz zwischen Meereisverlust und Temperaturerhöhung: Fehlt das Eis, wird die Energie der Sonne nicht mehr ins All zurückgeworfen, sondern erwärmt das Wasser. Folge: Die Temperaturen steigen im hohen Norden zwei- bis dreimal so schnell wie im globalen Mittel. Ein anderer Mechanismus hängt mit der Höhe der Eisschilde zusammen. In der Höhe ist es kälter als im Tal, das weiß jeder Bergsteiger. Schmilzt das Eis aber, sinkt seine Oberfläche immer tiefer ab, wo höhere Temperaturen herrschen. So verstärkt sich der Tauprozess selbst.
Wer sich mit den Eisschilden beschäftigt, hat es mit all diesen fatalen Zusammenhängen und Abhängigkeiten im Klimasystem zu tun. Meereis und Temperatur, Eisverlust und Meeresspiegelanstieg – ein Zahnrad greift ins andere. Rückkopplungen und Kipppunkte gefährden die Stabilität unseres Klimas erheblich. Forschende verschiedener Institute, vor allem des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, haben untersucht, wie die einzelnen Kipppunkte ineinandergreifen – mit beängstigendem Ergebnis. Sie warnen vor einem Dominoeffekt, bei dem ein unumkehrbarer Wandel den nächsten anstößt.
Ausgangspunkt für eine solche Kippkaskade könnten die Eisschilde auf Grönland und der Westantarktis sein. Dann ändern sich die Strömungen im Atlantik, die wiederum Auswirkungen auf den Amazonasregenwald haben – und letztlich auf das Klima der gesamten Welt. Aus einer Studie eines Teams um Ricarda Winkelmann geht hervor, dass das Risiko dafür bereits bei einem Temperaturanstieg von 1,5 bis 2 Grad, wie ihn das Pariser Klimaabkommen als Maximum nennt, deutlich zunimmt. Und je weiter die Erderwärmung voranschreitet, desto wahrscheinlicher wird ein solches Szenario. Die Menschheit sollte alles tun, um das zu verhindern.
Auf den Punkt gebracht
Durch den fortschreitenden Klimawandel schmelzen die Eisschilde Grönlands und der Antarktis. In der Folge wird der Meeresspiegel bis 2100 um bis zu einen Meter ansteigen.
Konventionelle Klimamodelle berücksichtigen die langsamen Veränderungen von Eisschilden noch nicht. Forschende des Max-Planck-Instituts für Meteorologie haben ein Modell entwickelt, mit dem sich die langfristige Dynamik von Eisschilden und die Wechselwirkungen mit dem Klimasystem berechnen lassen.
Im Zusammenspiel von Klima und Eisschilden kann es zu Instabilitäten kommen, jenseits derer ein Eisschild unumkehrbar abschmilzt. Solche Kipppunkte werden noch erforscht, für die Westantarktis ist eine solche Schwelle aber möglicherweise schon überschritten.
Glossar
Heinrichereignis
heißt der schubweise und schnelle Verlust großer Eismassen vom nordamerikanischen Eisschild während der letzten Kaltzeit des Eiszeitalters.Kipppunkt
heißt ein Schwellenwert beispielsweise der Temperatur, bei dessen Überschreiten es im Klimasystem zu unumkehrbaren Prozessen kommt.