Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften
Von chemischen Reaktionsnetzwerken zu Hypergraphen
Im Jahr 2017 waren mehr als 20 Millionen chemische Substanzen und mehr als 40 Millionen chemische Reaktionen bekannt. Diese Daten werden von der elektronischen Datenbank Reaxys© bereitgestellt, die seit den 1970er Jahren die Handbücher von Gmelin und Beilstein ersetzt und alle jemals veröffentlichten Substanzen und Reaktionen erfasst. Das sind beachtliche Zahlen. Aber noch überraschender ist die Tatsache, dass sie seit den Anfängen der modernen Chemie im späten 18. Jahrhundert mit einer fast konstanten Rate von etwas über vier Prozent pro Jahr stetig gewachsen sind. Diese Wachstumskurve wurde nur kurz unterbrochen durch die beiden Weltkriege, stieg aber nach diesen katastrophalen Ereignissen schnell wieder an. [5].
Mathematische Strukturen für chemische Netzwerke
Chemische Reaktionen wandeln eine Menge von Ausgangstoffen (Edukten) in eine Menge von Produkten um, die sich dann wiederum in weiteren Reaktionen mit anderen Substanzen kombinieren lassen. Dies lässt sich durch eine mathematische Struktur - einen sogenannten (gerichteten) Hypergraphen - erfassen, dessen Elemente oder Knoten die Stoffe und dessen Hyperkanten die sie verbindenden Reaktionen sind. Die Herausforderung besteht darin, formale Werkzeuge zu entwickeln, um diesen gigantischen chemischen Hypergraphen effizient zu analysieren und sein stetiges Wachstum zu erklären. Dieses Wachstum ist jedoch nicht nur intrinsisch bedingt, sondern hängt auch von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren ab [4]. Chemiker publizieren gemeinsame Arbeiten, die wiederum in anderen Publikationen zitiert werden; das bildet die Basis für die Verbreitung des chemischen Wissens. Auch dies führt mathematisch zu Hypergraphen, bei denen die Knoten nun die Autoren und die Hyperkanten die von ihnen verfassten Artikel darstellen, sowie zu weiteren gerichteten Verbindungen zwischen Quellen und Zitaten. Auch wenn die systematische Erfassung von Daten hier schwieriger ist (z. B. bei Namensdopplungen), werden wir wieder zu derselben mathematischen Struktur, den (gerichteten) Hypergraphen, geführt.
Die Graphentheorie ist ein gut entwickeltes mathematisches Gebiet. In einem Graphen verbindet eine Kante genau zwei Elemente. Sogenannte Simplizialkomplexe sind für viele Zweige der Mathematik von grundlegender Bedeutung und wurden daher intensiv untersucht. Wenn in einem Simplizialkomplex eine Menge von Elementen miteinander verbunden ist, so ist auch jede ihrer Untermengen verknüpft. In Netzwerken chemischer Reaktionen ist dies jedoch nicht der Fall. Lässt man bestimmte Edukte weg, kann keine chemische Reaktion mehr stattfinden. Dies gilt ebenso bei Kooperationsnetzwerken. Wenn es eine gemeinsame Veröffentlichung von A, B und C gibt, gibt es nicht notwendigerweise auch gemeinsame Arbeiten, an denen nur zwei Autorenpaare beteiligt sind.
Hypergraphen ermöglichen die Beschreibung komplexer Netzwerkbeziehungen
Mathematiker und Mathematikerinnen dachten zunächst, dass Hypergraphen nicht über genügend formale Struktur für eine umfassende und erfolgreiche mathematische Theorie verfügten. Daher haben sie das Thema bislang nicht genauer erforscht. Mithilfe von Ansätzen aus der Riemannschen Geometrie konnten wir jedoch eine reichhaltige mathematische Theorie der Hypergraphen entwickeln. Einerseits konnten wir Analogien zur Ricci-Krümmung der Riemannschen Geometrie [2] herstellen, die übrigens die entscheidende geometrische Struktur in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist. Zudem konstruierten wir ein weiteres grundlegendes mathematisches Werkzeug: einen Operator vom Laplace-Typ für Hypergraphen, wie sie in chemischen Reaktions- oder Zitationsnetzwerken vorkommen [3].
Die Eigenwerte dieses Operators kodieren geometrische Informationen über den zugrundeliegenden Hypergraphen in einer kompakten und relativ leicht berechenbaren Weise, während andere strukturelle Berechnungen schon für Graphen typischerweise NP-schwer sind (das heißt so schwierig wie Probleme der NP-Klasse). Nach einer sehr detaillierten Datenanalyse arbeiten wir nun an mathematischen Modellen, die die spezifischen Eigenschaften von chemischen oder sozialen Hypergraphen erfassen und deren robuste Wachstumsrate erklären. Neben mathematischen Werkzeugen zur Untersuchung von chemischen Reaktionsnetzwerken, sozialen Kollaborations- oder Zitationsnetzwerken und ähnlichen Hypergraphen erschließt unsere Theorie auch verschiedene zusätzliche Anwendungen.
Synchronisation und Chaos
Eine frühe Erkenntnis der Graphentheorie war, dass die Herausforderung, einen Graphen durch Zerstörung möglichst weniger Kanten in zwei große Komponenten zu zerlegen, durch den kleinsten positiven Eigenwert des Laplace-Operators des Graphen bestimmt wird. Das entsprechende Problem für Simplizialkomplexe war lange eine offene Frage in der theoretischen Informatik. Mit unseren Werkzeugen können wir solche Zerlegungen charakterisieren, und zwar nicht nur für Simplizialkomplexe, sondern auch für allgemeinere Hypergraphen. Ein weiteres, scheinbar nicht verwandtes Problem betrifft die Synchronisation chaotischer Oszillatoren.
Bereits seit den 1980er Jahren ist bekannt, dass sich ein Netzwerk chaotischer Oszillatoren durch diffusive Kopplung synchronisieren lässt; dass bedeutet, dass jeder Oszillator nicht nur seinen eigenen aktuellen Zustand, sondern auch einen Durchschnitt der Zustände seiner Nachbarn zur Aktualisierung verwendet. Dann könnten zwar alle Oszillatoren weiterhin chaotisch sein, aber sie wären auf die gleiche Art und Weise chaotisch. Weil dies dem Grundkonzept des Chaos, der Verstärkung kleiner Störungen, zu widersprechen scheint, war man seinerzeit von diesem Resultat überrascht. Doch in einer früheren Arbeit hatten wir schon die Beziehung dieses Phänomens zum kleinsten positiven Eigenwert des Laplace-Operators aufgedeckt. Aber natürlich ist es nicht gerade das interessanteste kollektive Phänomen, wenn alle genau das Gleiche tun.
Wir haben herausgefunden, dass sich ein komplexeres kollektives Verhalten einstellen kann, wenn die Kopplung auf einem Hypergraphen stattfindet und unser Laplace-Operator für diffusive Kopplung verwendet wird [1]. Wenn der Hypergraph beispielsweise eine Gruppe zentraler Knotenpunkte und mehrere Gruppen peripherer Knotenpunkte aufweist, die mit der zentralen Gruppe verbunden sind aber nicht untereinander, könnte es sein, dass das Zentrum und die Peripherie unterschiedliche synchronisierte Verhaltensweisen zeigen (siehe Abbildung 2). Dies bedeutet: Alle zentralen Knotenpunkte handeln auf dieselbe Weise, genauso wie die peripheren Knotenpunkte, jedoch unterscheidet sich ihr Verhalten von dem der Zentrumsknoten. Es kann auch noch reichhaltigeres kollektives Verhalten entstehen, das wir nun genauer untersuchen und verstehen wollen.