Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik

Entdeckung von Ortszellen bei Fischen 

Autoren
Robson, Drew; Li, Jennifer
Abteilungen

Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, Tübingen

Zusammenfassung
Unser Gehirn orientiert sich im Raum, indem es ein so genanntes kognitives Modell seiner Umgebung bildet. Dabei spielen die Ortszellen des Hippocampus eine wichtige Rolle. Während Verhaltensstudien darauf hindeuten, dass räumliche kognitive Fähigkeiten auch bei Fischen vorhanden sein könnten, haben frühere Studien keine eindeutigen Beweise für Ortszellen außerhalb von Vögeln und Säugetieren gefunden.  Mit Hilfe eines Tracking-Mikroskops untersuchten wir die Gehirnaktivität frei schwimmender Zebrafischlarven mit zellulärer Auflösung und konnten erstmals Ortszellen bei Fischen nachweisen.

Einleitung

Das menschliche Gehirn hat die Fähigkeit, kognitive Modelle der Welt zu bilden, z. B. abstrakte Repräsentationen und Beziehungen, wie die Identität von Objekten, die eigene Position im Raum und andere Dinge. Dieses kognitive Modell der Welt wird durch neue Erfahrungen ständig aktualisiert und kann dazu verwendet werden, zukünftige Ergebnisse vorherzusagen. Seit einer bahnbrechenden Arbeit von Tolman vor über 70 Jahren [1] wird diese strukturierte Repräsentation der Welt oft als "kognitive Karte" bezeichnet. Wie das biologische Gehirn jedoch die Fähigkeit entwickelt hat, kognitive Karten der Welt zu erstellen, ist der Forschung bis heute ein Rätsel.

Betrachtet man das Gehirn von Säugetieren, so sind die Populationen von Orts- und Gitterzellen im Netzwerk des Hippocampus das wichtigste System, um solche "kognitiven Karten" zu untersuchen. Im Rahmen der räumlichen Orientierung sind Orts- und Gitterzellen in der Lage, eine topographische Karte des physischen Raums zu erstellen [2; 3]. Insbesondere Ortszellen bilden flexible räumliche Karten, die sich je nach Umgebungsmerkmalen und dem inneren Zustand des Tieres anpassen. Im letzten halben Jahrhundert war die Untersuchung räumlicher kognitiver Karten eines der produktivsten Forschungsgebiete der Neurowissenschaften.

In der Vergangenheit beschränkte sich die Erforschung der räumlichen Wahrnehmung jedoch auf einige wenige Säugetierarten. Verhaltensstudien deuten darauf hin, dass räumliche Wahrnehmung auch bei Wirbeltieren wie Fischen vorhanden sein könnte, die sich vor mehr als 400 Millionen Jahren von den Säugetieren getrennt haben. Jedoch fand man in früheren Studien keine eindeutigen Beweise für Ortszellen außerhalb der Verwandtschaftgruppen der Vögel und Säugetiere.

Bei Fischen war die Lage oder sogar die Existenz des so genannten Hippocampus Gegenstand heftiger Debatten, da sich umfassende neuronale Aufzeichnungen im Fischgehirn während der räumlichen Exploration als äußerst schwierig erwiesen haben. Daher ist das Verständnis der Entwicklung der räumlichen Wahrnehmung und der verschiedenen Strukturen, die die räumliche Wahrnehmung bei verschiedenen Arten ermöglichen, nach wie vor begrenzt.

Gehirnuntersuchungen an frei schwimmenden Fischen 

Um herauszufinden, ob es bei Wirbeltieren wie Fischen ein Bewusstsein für Raum gibt, haben wir die Gehirne frei schwimmender Zebrafischlarven untersucht [4], um die funktionellen Eigenschaften und die anatomische Verteilung räumlicher Information im Fischgehirn umfassend zu charakterisieren.

Zebrafischlarven sind ein einzigartiger Modellorganismus mit einem winzigen Gehirn, das aus etwa 100.000 Neuronen besteht, die alle optisch zugänglich sind. Unser Labor hat transgene Zebrafische gezüchtet, die Kalzium-Sensoren exprimieren, um die neuronale Aktivität im Gehirn zu messen. Darüber hinaus hat unser Labor das erste Mikroskop entwickelt, das frei schwimmende Tiere mit zellulärer Auflösung im gesamten Gehirn beobachten kann (Abb. 1). Das Tracking-Mikroskop kombiniert ein Mikroskop mit strukturierter Beleuchtung (SI) mit einem hochmodernen Robotersystem zur Verfolgung frei schwimmender Tiere. Mit Hilfe des Tracking-Mikroskops konnten wir erstmals Ortszellen im Gehirn von anderen Tieren als Säugetieren und Vögeln nachweisen. 

Auch Fischgehirne besitzen Ortszellen

Die Netzwerkaktivität der Ortszellen von Zebrafischen weist wichtige Ähnlichkeiten mit den Ortszellen von Säugetieren auf. Erstens deuten zwei Erkenntnisse darauf hin, dass die Integration von Informationen zur Eigenbewegung die Aktivität der Ortszellen steuern kann: Die Ortsfelder sind trotz erheblicher Veränderungen der Umgebungshelligkeit (z. B. von hell nach dunkel) stabil, und die Aktivität der Ortszellen wird in erster Linie durch die Integration von Informationen zur Eigenbewegung gesteuert, wenn es zu Konflikten zwischen Orientierungspunkten und der laufenden Eigenbewegung kommt (z. B. durch Drehen von Orientierungspunkten ohne Unterbrechung der Eigenbewegung). Zweitens wird eine gespeicherte räumliche Karte abgerufen, wenn das Tier nach dem Entfernen in eine vertraute Umgebung zurückkehrt. Drittens werden die Ortszellen neu zugeordnet, um verschiedene Umgebungen flexibel zu kodieren (z. B. Arenen mit verschiedenen Landmarken und Geometrien).

Ausblick

Derzeit wissen wir nur wenig über die neuronale Architektur und die Rechenkapazitäten des Gehirns von Fischen. Die Entdeckung von Ortszellen im kompakten Gehirn des larvalen Zebrafisches eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für das Verständnis der räumlichen Wahrnehmung. Im Gehirn von Säugetieren sind Orts- und Gitterzellen über Hirnregionen mit Millionen von Zellen verteilt, was es schwierig macht, einen umfassenden Überblick über die Aktivität oder Konnektivität des Netzwerks zu erhalten. Das kompakte larvale Zebrafischgehirn (~100.000 Neuronen im gesamten Gehirn und < 20.000 Neuronen im Telenzephalon) bietet eine einzigartige Gelegenheit, die neuronale Aktivität und die Synapsenverbindungen im gesamten Gehirn umfassend zu erfassen, was es in Zukunft ermöglichen wird, umfassendere und detailliertere Modelle der Raumwahrnehmung zu erstellen.

Literaturhinweise

Tolman, E.
Cognitive maps in rats and men.
Psychological  Review 55, 189–208 (1948).
McNaughton, B. L., Battaglia, F. P., Jensen, O., Moser, E. I.;  Moser, M. B.
Path integration and the neural basis of the ‘cognitive map’
Nature Reviews Neuroscience 7, 663–678 (2006).
O’Keefe, J. & Nadel, L.
The Hippocampus as a Cognitive Map
Oxford University Press: Oxford, UK. (1978)
Kim, D. H; . Kim, J.; Marques, J.C.; Grama, A.; Hildebrand, D.G.C.; Gu, W.; Li, J.M.;  Robson, D.
Pan-neuronal calcium imaging with cellular resolution in freely swimming zebrafish.
Nature Methods 14, 1107–1114 (2017)

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