Forschungsbericht 2023 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Wissenschaft und Erfahrung: Wissenschaftsgeschichte neu geschrieben

Autoren
Krause, Katja; Wietecha, Tracy
Abteilungen

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Zusammenfassung
Die Forschungsgruppe Experience in the Premodern Sciences of Soul and Body untersucht die Wechselwirkungen von Erfahrung und Wissenschaft, bewertet historische Wissenschaftspraktiken neu und entwickelt philosophische Grundlagen, indem sie die Rolle des wissenschaftlichen Subjekts für Neurowissenschaften und KI hervorhebt. Ihre Methode der relationalen Rationalität erweitert das Verständnis von Wissenschaft als kulturhistorisches Phänomen und verdeutlicht die Ontologie und Funktion des menschlichen Erkennens, um den Wissenschaften neue Sichtweisen und transformative Erkenntnisse zu ermöglichen.

Nachdem die empirischen Wissenschaften lange Zeit die Geschichtsschreibung unserer Disziplin dominiert haben, geht die Max-Planck-Forschungsgruppe Experience in the Premodern Sciences of Soul and Body über diesen Blickwinkel hinaus. Wir zeigen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Erfahrung und Wissenschaft sehr viel umfangreicher und bedeutsamer ist als bislang vermutet.

Unser Ziel war es anfangs, die erkenntnistheoretische Rolle der Erfahrung in den vormodernen Wissenschaften im Griechischen, Syrischen, Arabischen, Hebräischen, Persischen, Lateinischen, Chinesischen und in den Vernakularsprachen zu erforschen. Dabei erkannten wir, dass sich die Erfahrung in ihrer Funktion nur studieren lässt, wenn sie in ihrer Ontologie erfasst wird: im wissenschaftlichen Subjekt und in den Beziehungen der Wissenschaftler untereinander. Folglich haben wir uns auf die Entwicklung einer neuen Historiografie der relationalen Rationalität konzentriert, die sich zugleich für ein philosophisches Verstehen der Wissenschaften der Gegenwart eignet.

Für eine neue Historiografie der Wissenschaften

Damit wir heute überhaupt erkennen können, was Wissenschaft in ihrer Geschichte war, ist es nötig, ihre jeweiligen epochalen Besonderheiten anzuerkennen – denn nicht das heutige Denken über das, was Wissenschaft ist, sondern das jeweils historische ist ausschlaggebend. Gleiches gilt für die wissenschaftliche Erfahrung. Nur so stehen wir als Historiker und Historikerinnen auf dem Boden wirklich historisch-empirischer Tatsachen.

Ein Beispiel: Der bedeutende Arzt, Gärtner und Botaniker Johann Elsholtz (1623-1688) widmete sich dem Lebendigen. Seine umfassenden Kenntnisse ermöglichten es ihm, diverse Pflanzen aus Lateinamerika in Deutschland zu beheimaten. Er brachte z. B. den Kakaobaum dazu, hier zu wachsen und Früchte zu tragen. Dem Kakaogetränk konnte Elsholtz jedoch nur lokale Gewürze beimischen und verlieh ihm damit eine konträre medizinische Wirkung als in Mexiko: Dort kühlte es, hier wärmte es. Letztlich zielte Elsholtz darauf ab, die Deutschen zur Gesundheitsvorsorge zu befähigen. Elsholtz war somit – auf Basis seiner umfassenden Erfahrungen – zugleich Lehrer und Aufklärer.

Das Subjekt der Wissenschaft im Fokus

Aus unserer neuen Historiografie der Wissenschaften heraus kann die Erfahrung nicht mehr auf rein empirische Methoden und Praktiken wie Beobachtung und Experiment reduziert werden. Vielmehr ist sie zunächst im Subjekt des Wissenschaftlers zu suchen, wo sie den Geist formt, ordnet und prägt. Die Erfahrung und ihr Verhältnis zur Wissenschaft zu verstehen, heißt für uns, beide als miteinander verwobene Kulturtechniken im Sinne erworbener Fähigkeiten einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern zu begreifen. Diese Fähigkeiten eröffnen uns als Historikern und Historikerinnen ein breites Spektrum von Wissenschaftspraktiken: das Beobachten, Experimentieren, Kurieren, Lehren und Theoretisieren.

Wir lassen den historischen Wissenschaftler selbst abgrenzen, welche Praxis, Erfahrung und Wissenschaft von Relevanz für unsere Forschung ist. So bezeichnete der berühmte persische Arzt und Philosoph Avicenna (980-1037) die Naturphilosophie als Wissenschaft. Damit einhergehend identifizierte er ganz unterschiedliche Erfahrungsbereiche, über die er als Naturphilosoph verfügen musste. Diese reichten von seiner Fähigkeit zur Induktion über die Introspektion, die Interpretation von Träumen bis hin zum Beurteilen des gesprochenen Wortes.

Die Ordnung, die wir mit unserer neuen Historiografie der relationalen Rationalität in Zusammenarbeit mit über 80 Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt entworfen haben, folgt der genetischen Ordnung der relevanten Erfahrungsbereiche in ihren historischen Ausprägungen und bettet diese Bereiche zugleich in eine Historiografie der Wissenschaft ein. Auch erweitert sie das Verständnis von wissenschaftlichen Praktiken, indem sie sowohl die empirischen als auch die nicht-empirischen untersucht.

Direkte Konsequenzen der damit einhergehenden Umkehrung der derzeitigen historiografischen Standards sind erstens eine erhebliche Erweiterung des zu erforschenden Wissenschaftskorpus um Disziplinen, die bisher weitgehend ignoriert wurden – wie die philosophische Psychologie, das Recht oder die Theologie –, und zweitens das Vermeiden einer Verwässerung von Wissenschaft hin zu Wissen in all seiner Breite. Wir widmen uns der Erkenntnis von Wissenschaft als ein relationales Phänomen zwischen Wissenschaftlern, das seiner je eigenen ontologischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Anordnung in der Geschichte folgt.

Neurowissenschaften und KI im Blick unserer Forschung

Unsere Forschung schließt auch die Wissenschaften ein, die sich der Ontologie und Funktion des menschlichen Erkennens im Heute stellen. Im Rahmen des Elkana-Forums haben wir uns der philosophischen Erforschung der kognitiven Neurowissenschaften und der KI-Forschung gewidmet, um wegweisende Gedanken des Wissenschaftsphilosophen Yehuda Elkana (1934-2012) in die Zukunft zu tragen.

Beiden Disziplinen ist gemein, dass sie mit empirisch-technischen Methoden das Subjekt objektivieren: die Neurowissenschaften anhand von fMRI-Scans, die KI-Forschung anhand eines Substrats, in dem künstlich-neuronale Netze algorithmisch erzeugt werden. Aus philosophischer Perspektive ist es uns wichtig, diese Spielarten der Objektivierung des Subjekts zu verstehen, nicht zu erklären. Sie zu verstehen bedeutet, sie in die menschliche Geschichte – in den Zusammenhang ihrer Entstehung vom Wissenschaftler aus – zu verorten. Eine solche Rückführung auf den Entstehungszusammenhang erzeugt einen echten Erkenntnismehrwert, denn nur sie kann die Ontologie von Erfahrung und Wissenschaft als lebendig verstehen und so das Primat des Menschen als Schöpfer anerkennen.

Damit vermag es unsere Forschung, den Wissenschaften von heute Denkmöglichkeiten zu offerieren, die Erkenntnis und Orientierung bieten. Ganz im Sinne Elkanas und seines „rethinking the Enlightenment“ machen wir transformative Wissenschaft.

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