Bach, Mozart oder doch Jazz

Wie sich Musikstücke verschiedener Komponisten und Genres entwickeln, lässt sich unterschiedlich gut erahnen

11. November 2024

Kompositionen von Johann Sebastian Bach sind weniger gut vorhersagbar als solche von Wolfgang Amadeus Mozart. Und wie sich ein Jazz-Stück entwickelt, lässt sich noch weniger vorhersehen. Das haben zwei Physiker des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen festgestellt, als sie an über 550 Stücken aus Klassik und Jazz untersuchten, wie sehr ein Musikstück Erwartungen an seinen weiteren Verlauf weckt.

Musik kann aufpeitschen, gute Laune bereiten, aber auch wehmütig und traurig machen. Doch wie weckt Musik Emotionen, und wie erlangt sie Bedeutung? Der Musikphilosoph Leonard Meyer vermutete bereits vor fast 70 Jahren, dass für beides ein Wechselspiel zwischen Erwartung und Überraschung verantwortlich sei. Für Menschen war es evolutionär entscheidend, auf der Basis von bisherigen Erfahrungen neue Vorhersagen treffen zu können. Dadurch können wir auch aus gehörten musikalischen Abläufen Erwartungen und Vorhersagen zum weiteren Verlauf der Musik treffen. Aus dem Wechselspiel von Erwartungen, ihrer Erfüllung oder ihrer (vorläufigen) Nichterfüllung entstehen laut Meyer Emotionen und Bedeutung in der Musik.

Theo Geisel, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und der Professor Universität Göttingen, sowie Corentin Nelias, der ebenfalls am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation forscht, haben sich die Frage gestellt, ob sich diese philosophischen Konzepte mit modernen Methoden der Datenwissenschaft empirisch fassen lassen. Ihre Studie an mehr als 450 Jazzimprovisationen, sowie 99 klassischen Kompositionen, darunter auch mehrsätzigen Sinfonien und Sonaten, veröffentlichten sie kürzlich im Fachmagazin Nature Communications. Darin untersuchten sie mit Zeitreihenanalysen die Autokorrelationsfunktion von musikalischen Tonhöhensequenzen, das bedeutet, wie sehr der Verlauf einer Tonsequenz früheren Sequenzen ähnelt. Daraus ergibt sich eine Art Gedächtnis des Musikstücks. Nimmt dieses Gedächtnis mit der Zeit nur langsam ab, so ist auch die Zeitreihe leichter vorhersehbar; verschwindet es rapide, so bietet die Zeitreihe mehr Abwechslung und Überraschungen.

Anfänglich sind Musikstücke relativ gut vorhersagbar

Besonders aussagekräftig sind dabei die Werte der Übergangszeiten der Stücke, bei denen jeweils das leichter vorhersehbare Verhalten in ein gänzlich unvorhersehbares und unkorreliertes Verhalten übergeht. Abhängig von der Komposition oder der Improvisation fanden die Wissenschaftler Übergangszeiten, die sich von wenigen Viertelnoten bis zu etwa 100 Viertelnoten erstrecken. Jazzimprovisationen hatten dabei typischerweise kürzere Übergangszeiten als viele klassische Kompositionen, waren also meist weniger gut vorhersehbar. Auch zwischen verschiedenen Komponisten ließen sich Unterschiede beobachten. So fanden die Forscher in verschiedenen Kompositionen von Johann Sebastian Bach Übergangszeiten zwischen fünf und zwölf Viertelnoten, während sich für verschiedene Kompositionen von Mozart Übergangszeiten von acht bis zu 22 Viertelnoten ergaben. Das bedeutet, dass Kompositionen von Mozart oft über längere Zeit vorhersagbar sind als die Kompositionen von Bach, die mehr Abwechslungen und Überraschungen bieten.

Generell nimmt die Autokorrelationsfunktion der Tonhöhen mit der Zeitdifferenz anfänglich sehr langsam ab. Darin drückt sich eine hohe Ähnlichkeit und Vorhersehbarkeit musikalischer Abläufe aus. Gleichzeitig stellten die Forscher fest, dass die Vorhersehbarkeit jenseits einer zeitlichen Grenze relativ abrupt endet. Für längere Zeitunterschiede wiederum sind Autokorrelationsfunktion und Gedächtnis verschwindend gering.

Für Theo Geisel, der das Forschungsprojekts initiiert und geleitet hat, erklären die Ergebnisse der Studie auch eine ganz persönliche Beobachtung aus der Schulzeit: „In meiner Jugend schockierte ich meinen Musiklehrer und Leiter unseres Schulorchesters mit der Aussage, dass ich oft keine große Begeisterung für Mozarts Kompositionen aufbringen konnte", sagt er. „Mit den Übergangszeiten zwischen stark korreliertem und unkorreliertem Verhalten haben wir nun ein quantitatives Maß für den Abwechslungsreichtum der Musik gefunden, das mir hilft zu verstehen, warum ich Bach mehr mochte als Mozart.“

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