Vögel lernen von ihren Nachbarn
In neuer Umgebung ahmen Kohlmeisen angestammte Artgenossen nach und lernen von ihnen nützliche Tricks
Forschende haben einen Auslöser für soziales Lernen bei Wildtieren gefunden: Zuwanderung. In einen unbekannten Lebensraum versetzte Kohlmeisen beobachten andere Vögel ganz genau und entwickeln so schnell nützliche Verhaltensweisen. Mit der Studie wird erstmals die seit langem vertretene Annahme experimentell untermauert, dass es für Tiere in einem neuen Lebensraum vorteilhaft ist, systematisch von Artgenossen zu lernen.
Nur bei wenigen Tierarten waren bislang so tiefe Einblicke zum Verständnis des sozialen Lernens möglich wie bei den Kohlmeisen. Kohlmeisen erlangten in den 1920er Jahren Berühmtheit, als sie Foliendeckel von Milchflaschen öffneten um an den Inhalt zu gelangen. Die Bewohner einer kleinen Stadt in England waren die ersten, die dieses Verhalten meldeten, aber schon bald stellten Menschen in ganz Europa fest, dass ihre Milchflaschen von Vögeln geplündert wurden. Das Verhalten verbreitete sich so schnell, dass die Forschenden es für unwahrscheinlich hielten, dass über den ganzen Kontinent verteilt einzelne Vögel den gleichen Trick selbst erfanden. Lernten die Vögel vielleicht voneinander?
Die Antwort blieb bis 2015 ein Rätsel, als ein Team unter der Leitung von Lucy Aplin, damals an der Universität Oxford, ein Experiment bei einer Meisenpopulation in einem Wald in England durchführte. Ihr Experiment zeigte, dass die Vögel durch Kopieren der Lösung von anderen lernen konnten, wie man an Futter in einer Rätselbox kommt. Dies bestätigte, dass auch die Milchräuber ihre Diebeskunst an ihren Schwarm weitergegeben hatten.
Neuland testen
„Soziales Lernen ist das perfekte Schnellverfahren, um Neuland sicher zu testen“, sagt Postdoktorand Chimento, der in Aplins Team am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie arbeitete. "Wenn man darauf achtet, was andere tun, kann man erkennen, ob ein neues Verhalten vorteilhaft oder möglicherweise gefährlich ist. Es nachzuahmen bedeutet, dass man selbst auch die Belohnung einstreichen kann.“
Indem sie das Verhalten anderer kopieren, können Tiere an Ressourcen kommen. Chimento und Aplin wollten daher herausfinden, ob es einen Faktor gibt, der soziales Lernen beschleunigt und es den Tieren dadurch ermöglicht, effizienter zum Erfolg zu kommen. „Modellen zufolge sollten Tiere ihre soziale Lernstrategie ändern, wenn sie mit neuen Umgebungen konfrontiert werden“, erklärt Chimento, der jetzt am Exzellenzcluster Kollektives Verhalten an der Universität Konstanz arbeitet. Anders ausgedrückt: Wenn Tiere an einen neuen Ort ziehen, können sie mehr von anderen lernen. „Bislang aber hatte das noch niemand bei Tieren experimentell nachgewiesen“, sagt er.
Lernen vom Tutor
Das Team entwarf ein Experiment mit einem selbst entwickelten automatisierten Futterbox-System um diese Hypothese zu überprüfen. In mehrere Kohlmeisen-Gruppen wurde je ein "Tutor" gesetzt, der gelernt hatte, durch Drücken der linken beziehungsweise rechten Tür an das Futter in der Box zu gelangen. Die anderen Vögel lernten vom Tutor, eine der beiden Möglichkeiten zu bevorzugen.
Im nächsten Stadium wurden Vögel, die die rechte Tür nutzten, in Volieren mit Vögeln gesetzt, die die linke drückten, und umgekehrt. Die Zuwanderer beobachteten nicht nur die andere Art, diese Futterbox zu öffnen, sondern entdeckten in einigen Gruppen auch, dass die anderen Vögel dadurch eine höhere Belohnung erhielten. „Wichtig ist, dass die Neuankömmlinge nicht wussten, dass eine höhere Belohnung auf sie warten würde“, so Chimento, Erstautor der Studie. „Sie konnten die Veränderung nur erkennen, indem sie entweder die Bewohner beim Benutzen der Box beobachteten oder selbst die andere Seite ausprobierten.“
Umstieg auf neue Methode
80 Prozent der Zuwanderer änderten in der neuen Voliere sofort ihre Methode. Anstatt ihre erlernte Methode anzuwenden, kopierten die Zuwanderer schon beim ersten Versuch die Lösung der ansässigen Tiere. Laut Chimento spricht dieses Ergebnis eindeutige für soziales Lernen: „Natürlich können wir die Vögel nicht fragen, woher sie ihre Informationen haben. Die Verhaltensmuster weisen aber eindeutig darauf hin, dass die Neuankömmlinge die anderen von Anfang an sehr genau beobachteten.“
Dies ist der erste experimentelle Beweis dafür, dass Zuwanderung einen starken Einfluss darauf hat, wie Tiere voneinander lernen. Und in der realen Welt kann dies von großer Wichtigkeit sein. Aplin, die Letztautorin der Studie erklärt: „In der Natur ziehen die Tiere oft von einer Umgebung in eine andere. Daher brauchen sie eine Strategie um herauszufinden, welche Verhaltensweisen am neuen Ort gut und welche schlecht sind.“