Gesellschaft: Wie Boosting uns stärken kann
Warum Politikansätze, die uns Menschen in eine bestimmte Richtung „schubsen“ wollen, alleine nicht stark machen in Zeiten multipler Krisen
In Zeiten globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien und der Bedrohung demokratischer Werte, ist eine mündige, kompetente und resiliente Gesellschaft gefragt. Politikansätze wie etwa das „Nudging“, die Menschen zu besseren Entscheidungen „schubsen” sollen, stehen zunehmend in der Kritik. Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin verfolgen einen anderen Ansatz, der als „Boosting“ bekannt ist.

In Zeiten wachsender globaler Herausforderungen werden bisherige verhaltenswissenschaftlich informierte Politikansätze zunehmend hinterfragt. Der einst dominierende Nudging-Ansatz, der Menschen zu besseren Entscheidungen „schubsen” sollte, steht in der Kritik, da er unter anderem die individuelle Autonomie des Einzelnen zu wenig fördert.
Im Gegensatz dazu gewinnen Boosts an Bedeutung. Boosting basiert auf der empirisch belegten Annahme, dass Menschen zu deutlich besseren Entscheidungen fähig sind, als oft vermutet. Statt Verhalten nur zu lenken, geht es beim Boosting darum, Menschen zu stärken, indem ihre Fähigkeiten zur Selbstkontrolle und Entscheidungsfindung in einer immer komplexeren Welt gefördert werden [to boost – verstärken]. „Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, erfordern mehr als subtile Anstöße. Beim Boosting geht es darum, Menschen in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und Entscheidungen zu treffen, die sowohl für sie selbst als auch für die Gesellschaft von Vorteil sind“, sagt Stefan Herzog, Senior Researcher im Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Der promovierte Kognitionspychologe hat zusammen mit Direktor Ralph Hertwig einen frei zugänglichen Artikel über Boosting geschrieben. Darin erklären sie, warum es wichtig ist, Menschen zu befähigen und zu aktivieren, damit sie selbstbestimmt handeln können, besonders in gesellschaftlich relevanten Feldern wie Klimawandel, Pandemien und der Bedrohung demokratischer Werte. Ihre Erkenntnisse sind im Journal Annual Review of Psychology –veröffentlicht.
Nudging stößt an die Grenzen
Die Wissenschaftler argumentieren, dass wir in einer stark kommerzialisierten und häufig manipulativ gestalteten Umwelt leben, die von Fast Food bis Social Media darauf ausgerichtet ist, menschliches Verhalten auszunutzen und zu beeinflussen – häufig zum Vorteil kommerzieller Interessen und zum Leid sowohl der einzelnen Menschen als auch dem Gemeinwohl. Hier stößt Nudging an Grenzen, da es oft keine dauerhafte oder robuste Widerstandskraft gegen solche Einflüsse vermittelt. „Unsere Konsumumgebung ist darauf ausgelegt, unsere natürlichen Tendenzen auszunutzen," erklärt Stefan Herzog. „Boosting ist essenziell, weil es Menschen dabei hilft, die Fähigkeiten zu entwickeln, diese manipulativen Kräfte zu navigieren und ihnen zu widerstehen."
Boosting konzentriert sich darauf, grundlegende Kompetenzen zu entwickeln, die in der heutigen, stark gestalteten Welt erforderlich sind. Stefan Herzog und Kolleginnen und Kollegen sammeln auf der Website scienceofboosting.org Beispiele für Boosts. Ein Beispiel ist etwa die Vermittlung von Grundkenntnissen in Statistik, die helfen, Wahrscheinlichkeiten besser zu verstehen, wenn es um rasante Anstiege von Gefahren geht: „50 Prozent mehr Nebenwirkungen eines Medikamentes“ ist ohne Nennung der Grundrate nicht aussagekräftig. Ein Anstieg der Nebenwirkungen beim Vergleich zweiter Medikamente von 50 Prozent könnte heißen: 3 anstatt 2 Fälle bei je 10.000 Patientinnen und Patienten – was immer noch eine geringe Rate ist.
Ein anderes Boosting-Beispiel ist „laterales Lesen“ – eine Strategie, mit der Faktenprüfer die Glaubwürdigkeit von Online-Informationen bewerten. Anstatt die fragliche Quelle ganz genau zu studieren, recherchieren Faktenprüfer im Internet, was andere vertrauenswürdige Quellen zu der fraglichen Quelle sagen. Training in lateralem Lesen kann auch in der Bevölkerung die Kompetenz steigern, vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Quellen online zu unterscheiden.
Wirkungsvoller Mix aus Boosting und Nudging
Eine einfache und wirkungsvolle Möglichkeit, Boosting und Nudging zu kombinieren, sind sogenannte „Self-Nudges“ („Selbst-Anstupser“). Sie befähigen Menschen , in Eigenregie ihre unmittelbare Umgebung so umzugestalten, dass sie ihre Ziele besser erreichen können. Zum Beispiel können sie ihre Selbstkontrolle bei ungesunder Ernährung verbessern, indem sie lernen, verlockende Lebensmittel bewusst außer Reichweite zu platzieren.
Obwohl Boosting klare Vorteile bietet, betonen die Autoren, dass es in einem umfassenden Politikmix verankert sein sollte. Um die komplexen Herausforderungen kommerzieller und manipulativer Umgebungen zu bewältigen, seien weiterhin Systemveränderungen, wie Anreize und Regulierungen, notwendig. Diese Veränderungen sind jedoch oft langsam oder werden in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Deshalb ist es wichtig, die Menschen in der Zwischenzeit mit den Fähigkeiten auszustatten, um ihre Autonomie und ihr Wohlbefinden zu schützen.
Die Wissenschaftler unterstreichen zudem, dass Boosting sorgfältig umgesetzt werden muss. Politische Entscheidungsträgerinnen und -träger sollten unter anderem darauf achten, kommerzielle Akteure nicht aus der Pflicht zu nehmen und zu viel Verantwortung auf Einzelpersonen zu übertragen. „Boosts haben das Ziel, unser aktives Entscheiden und autonomes Handeln zu unterstützen, weil beides wesentlich zu unserem Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Gesundheit beiträgt,“ sagt Ralph Hertwig, Direktor im Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. „Solche Ansätze, die auf das Individuum abzielen, sollten aber die Gesellschaft und Politik nicht von der wichtigen Frage abbringen, welche Systemmaßnahmen – wie etwa Verbote oder finanzielle Anreize – notwendig sind, um die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. Wir sollten das eine tun und das andere nicht lassen“, so Hertwig weiter.
In Kürze:
Der Artikel beleuchtet das Potenzial der Verhaltenswissenschaft, die Bürgerinnen und Bürgern, die Gesellschaft und die Politik in einer zunehmend komplexen Welt zu unterstützen.
Während der Nudging-Ansatz zunehmend dafür kritisiert wird, individuelle Autonomie zu wenig zu fördern, zielt Boosting darauf ab, Menschen in einer komplexen Welt durch die Stärkung ihrer Entscheidungs- und Selbstkontrollkompetenzen zu befähigen.
Um die komplexen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen ist nebst verhaltenspolitischen Ansätzen wie Boosting weiterhin ein umfassender Politikmix nötig, der auf Systemveränderungen, wie Anreize und Regulierungen, setzt.