Gel gibt künstlichen Muskeln Kraft
Forscher konstruieren aus einem neuen Werkstoff künstliche Muskeln und Greifarme
Für einen Sportler sind gallertartige Muskeln kein Grund zur Freude - für Materialwissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und der amerikanischen Bell Laboratories schon: Sie haben aus einem Gel und Siliziumnadeln einen Werkstoff entwickelt, der wie ein Muskel arbeitet. Aus dem aktiven Material haben sie auch nanometergroße Greifarme konstruiert. Sie griffen dabei auf ein einfaches, aber äußerst effektives Prinzip der Natur zurück. Sie nutzten nämlich die Fähigkeit von Gelen, Wasser aufzunehmen und abzugeben und dabei mechanische Arbeit zu verrichten - ganz so, wie es auch Pflanzen können (Science, 26. Januar 2007).
Manche Blüten öffnen sich bei Tag scheinbar wie von selbst und schließen sich, sobald es wieder dunkel wird. Es scheint, als hätten sie Muskeln. Tatsächlich bewegen aber gelartige Substanzen die Blütenblätter, indem sie abhängig von der Luftfeuchtigkeit schwellen oder schrumpfen. In der Natur bedienen sich nicht nur Blüten dieses hydraulischen Mechanismus, sondern auch Tannenzapfen oder auch der fleischfressende Sonnentau.
Die Wissenschaftler nutzten diesen Mechanismus nun für neuartige Werkstoffe, genannt HAIRS (hydrogel high-aspect-ratio rigid structures) - Hybridsysteme aus nanometergroßen Siliziumnadeln und einem Hydrogel. "Das Besondere des Hybridwerkstoffs ist die Kombination steifer und unflexibler Körper, der Siliziumnadeln, mit elastischen und weichen Verbindungselementen, dem Gel", sagt Prof. Peter Fratzl, Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Dadurch entsteht ein aktiver Werkstoff, also ein Stoff der Arbeit verrichten kann. Je nach Luftfeuchtigkeit verändert das Gel nämlich seine Oberfläche - es schrumpft oder es schwillt an und verändert dadurch die Orientierung der Siliziumnadeln. Mit diesem einfachen Prinzip stellten die Wissenschaftler zwei unterschiedliche Werkstoffe her: HAIRS-1 und HAIRS-2.
Bei HAIRS-1 sind die Siliziumnadeln im Gel verteilt und parallel ausgerichtet. Schrumpft das Gel zusammen, zieht es an den Siliziumnadeln und kippt sie zur Seite. Das Material verhält sich wie ein künstlicher Muskel. Bei HAIRS-1 sind die Siliziumnadeln nur in das Gel eingebettet, dagegen sind bei HAIRS-2 die Nadeln zusätzlich fest auf einer Siliziumoberfläche verankert. Mit folgender Auswirkung: "Im Gegensatz zu HAIRS-1 können die Siliziumnadeln bei HAIRS-2 nicht kippen, wenn das Gel schrumpft", erklärt Fratzl. Bei HAIRS-2 müssen sich die Nadeln verbiegen - jeweils vier der benachbarten Nadeln biegen sich aufeinander zu und bilden einen vierarmigen Greifer.
Diese spezielle Anordnung ergibt sich, da beim Schrumpfen des Gels Kapillarkräfte auftreten. Das Gel verhält sich wie Wasser auf einer Oberfläche - es strebt danach, seine Oberflächenspannung zu verringern. Deshalb sitzt jeweils ein Geltröpfchen zwischen vier Nadeln, die sozusagen die Eckpfeiler bilden. Schrumpft das Gel nun, zieht es die Nadeln an den Ecken nach innen, es entsteht der vierarmige Greifer. Die Greifbewegung der Nadeln ist komplett reversibel - wird das Gel wieder feucht, dehnt es sich aus und die Nadeln bewegen sich in ihre aufrechte Position zurück.
Um die Hybridwerkstoffe herzustellen, ätzten die Wissenschaftler zuerst einen Wald aus Siliziumstämmen in eine Siliziumscheibe. Die aufrechten Nadeln aus Silizium sind anschließend nur hundert bis dreihundert Nanometer dick und gerade mal fünf bis acht Mikrometer lang. Sie bedecken die Fläche der Siliziumscheibe in einem regelmäßigen Abstand von wenigen Mikrometern. Anschließend füllten die Wissenschaftler diese kammartige Struktur mit einem Gel, das sich chemisch fest an die Siliziumnadeln bindet. Für HAIRS-1 brechen die Wissenschaftler die Siliziumnadeln schließlich noch von ihrem Substrat ab - die Nadeln besitzen dann zwar eine geordnete Struktur, werden aber nur durch das Gel fixiert.
Das mechanische Prinzip, nach dem HAIRS-1 arbeitet, erkannte bereits der amerikanischen Ingenieur und Architekt Richard Buckminster-Fuller (1895-1983). Buckminster-Fuller konstruierte Gebäude aus steifen Stangen mit elastischen Bändern. Solche Strukturen sind flexibel und trotzdem stabil: Sie halten Wind und großen Schneelasten stand. Er führte für dieses Prinzip den Begriff Tensegrität (aus tension für Spannung und integrity für Unversehrtheit oder Festigkeit) ein. Biologen erkannten später, dass auch das mechanische Verhalten von Zellen dem Prinzip der Tensegrität folgt. Der neue Hybridwerkstoff ist aber der erste aktive Werkstoff, der diese der Natur abgeschaute Methode nutzt. "Wir haben uns von der Biologie zu diesem aktiven Werkstoff inspirieren lassen", sagt Fratzl: "Er könnte für Mikroaktuatoren oder in der Mikrofluidik eine Anwendung finden."