Graphen auf Ladungsentzug
Max-Planck-Forscher befreien Graphen von elektrischer Ladung, damit es seine Halbleiter-Eigenschaften zeigt
Immer kleiner, schneller und belastbarer - so soll die Zukunft der Elektronik aussehen. Forscher des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung in Stuttgart tragen mit aktuellen Arbeiten dazu bei, dass sich diese Hoffnung erfüllt. Sie haben Wege gefunden, Graphen von elektrischen Ladungen zu befreien. Graphen nennen Materialwissenschaftler Kohlenstoffschichten, die nicht dicker als eine oder einige wenige Atomlagen sind. Einlagiges Graphen wird so zum Halbmetall, zweilagiges zeigt dann die Eigenschaften eines Halbleiters. Die Stuttgarter Forscher präparierten Graphen großflächig auf einer Unterlage aus Siliciumcarbid und beeinflussten seine Leitfähigkeit zum einen gezielt, indem sie an die Kohlenstoff-Blätter Moleküle der organischen Substanz F4-TCNQ hefteten. Zum anderen stellten sie das Material in einer Form her, in der es sich erst gar nicht elektrisch auflädt. Vor allem doppellagiges Graphen wird damit auch technisch interessant: Es könnte Silicium ersetzen, da es sich zu viel kleineren Transistoren, den elementaren Bauteilen eines Mikrochips, verarbeiten lässt. (Physical Review, 1. Juni 2010 und Physical Review Letters, 10. Dezember 2009)
Ein einfacher Weg nützt wenig, wenn er knapp am Ziel vorbeiführt. So lässt sich Graphen recht leicht in reiner Form und relativ großen Schichten auf einer Unterlage aus Siliciumcarbid abscheiden. Doch für weiterführende Experimente und die technischen Anwendungen, denen es einmal dienen soll, eignet es sich so nicht: Die Ladungsträger in ungeladenem einlagigem Graphen benehmen sich als ob sie keine Masse hätten. Die physikalischen Effekte, die dadurch entstehen, möchten Forscher in Zukunft genauer untersuchen. Zwei Lagen des vernetzten Kohlenstoffs sollen außerdem als Halbleiter einmal zu kleineren elektronischen Bauteilen verarbeitet werden, als sie sich aus Silicium herstellen lassen. Doch auf der Unterlage aus Siliciumcarbid lädt sich Graphen elektrisch auf, und wird so zum metallischen Leiter - für die Halbleiterindustrie sowie für weitere Untersuchungen der scheinbar masselosen Ladungsträger ist es damit unbrauchbar. Ulrich Starke und sein Team um Camilla Coletti und Christian Riedl am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart können das verhindern: Sie haben Mittel gefunden, das Graphen auf der Siliciumcarbid-Unterlage von seiner Ladung zu befreien.
Einer ihrer Ansätze packt das Problem da, wo es entsteht. Denn zwischen den Siliciumatomen der Unterlage und den Graphenschichten bilden sich chemische Bindungen. Das führt schließlich dazu, dass sich Ladung ins Graphen fließt. Diesen Ladungstransport unterbrechen die Stuttgarter Forscher, indem sie die Bindungen zwischen Graphen und Silicium kappen. Zu diesem Zweck leiten sie Wasserstoffgas über das Materialduo; die Wasserstoffatome drängeln sich mühelos zwischen die Siliciumatome und die Kohlenstoffblätter. "Auf diese Weise erhalten wir das Graphen stabil auf seiner Unterlage und gleichzeitig doch so lose, dass es ladungsfrei ist", sagt Christian Riedl. Auch mehrere Kohlenstofflagen können die Forscher auf dem Siliciumcarbid stapeln und deren Verbindung zur Unterlage trennen.
Die Stuttgarter Wissenschaftler haben aber auch einen Weg gefunden, das Graphen zu entladen, ohne es vom Siliciumcarbid zu entkoppeln. Sie dampften Tetrafluorotetracyanoquinodimethan (F4-TCNQ) auf das Graphen. Die Moleküle der organischen Fluorverbindung heften sich an das Graphen und saugen die Ladung von den Kohlenstoffschichten ab. Während die Forscher immer mehr Moleküle an die Oberfläche heften, wird einlagiges Graphen zum Halbmetall, nimmt aber nicht die elektronischen Eigenschaften eines Halbleiters an. Das erreichen die Forscher jedoch in zweilagigem Graphen, das sich mit einer zunehmenden F4-TCNQ-Beladung allmählich vom metallischen Leiter zum Halbleiter wandelt. "Mit unterschiedlichen Mengen F4-TCNQ können wir die Leiteigenschaften des Graphen präzise einstellen", sagt Camilla Coletti, die die Experimente vorgenommen hat. Wenn zweilagiges Graphen, das technisch viel verspricht, mit der größtmöglichen Menge F4-TCNQ bedeckt ist, behält es die Eigenschaften eines Halbleiters sogar noch bei 200 Grad Celsius.
Dokumentiert haben die Wissenschaftler den Wandel der elektronischen Eigenschaften, indem sie die Bandstruktur des Graphen bestimmten, und zwar sowohl nach der Behandlung mit Wasserstoff als auch für unterschiedliche Mengen F4-TCNQ, die sie auf dem Material ablagerten. Die Bandstruktur ist eine Art Fingerabdruck der elektronischen Struktur und verrät, mit welchen Energien die Elektronen in einem Material gebunden sind. Abbilden lässt sie sich mit einer Methode namens winkelaufgelöster Photoelektronenspektroskopie. Dabei schlagen Photonen aus ultraviolettem Licht Elektronen aus dem Material. Die kinetische Energie und der Winkel davonfliegender Elektronen lassen sich messen; daraus ergibt sich unter anderem die Bindungsenergie der Elektronen und damit die Bandstruktur. "Die Messungen haben gezeigt, dass das F4-TCNQ die überschüssige Ladung aus dem Graphen vollständig aufnimmt", sagt Camilla Coletti.
"Mit den neuen Methoden, können wir in ganz neue Forschungsrichtungen denken", sagt Ulrich Starke. So erhoffen sich die Forscher Fortschritte in der Spinelektronik; etwa indem sie magnetische Materialien an das Graphen lagern. Die Spinelektronik nutzt im Gegensatz zur herkömmlichen Elektronik das magnetische Moment eines Elektrons und nicht seine Ladung, um Information zu verarbeiten. Auch für Kohlenstofftransistoren könnte das Graphen dank der Entladung nun noch interessanter werden. Ulrich Starke erklärt: "Wenn wir es schaffen den Graphenschichten beizubringen sich so anzuordnen, wie wir es wollen, könnten wir Transistoren entwickeln, die nur mit einem Elektron schalten."