Bewegtes Leben

Verhaltensforscher wollen das Wanderverhalten von Tieren mithilfe von GPS-Sendern aus dem All verfolgen

22. November 2012

Ob Zugvögel auf ihren Reisen rund um den Globus, Wale in den Weiten der Ozeane oder Gnus in den Savannen Afrikas – die großen Tierwanderungen auf der Erde sind ein unvergleichliches Schauspiel. Wohin die Tiere genau ziehen und wie sie sich dabei verhalten, ist in vielen Fällen erstaunlich wenig bekannt. An der Vogelwarte Radolfzell des Max-Planck-Instituts für Ornithologie verfolgen Martin Wikelski und seine Team verschiedenste Tierarten mithilfe von Minisendern auf ihren Wanderungen.

Text: Catarina Pietschmann

Für einen Abend im Mai ist es empfindlich kühl. Die Sonne ist eben untergegangen, und nun kriecht die Kälte den Rücken hoch. Unter der Dachkante der Konstanzer Grundschule tut sich etwas: Ein zartes Knistern ist zu hören, unter das sich leises, helles Quieken mischt. Und plötzlich geht alles ganz schnell: Erst eine, dann noch eine, schließlich fünf auf einmal – Starts im Halbsekundentakt. Im freien Fall stürzen sie herab, fangen sich kurz vor dem Boden ab, gehen blitzschnell in den Parabelflug steil aufwärts, um gleich schräg abzudrehen, damit die Bahn frei wird für die Nächsten. Fledermäuse schwärmen aus zu den besten Futterplätzen rund um den Bodensee. 89 Abendsegler sind heute unterwegs. Vor ein paar Tagen waren es noch 200. Ein Teil ist nun schon auf dem Zug in den hohen Norden, dorthin, wo im Sommer Mücken und Schnaken viel zahlreicher sind.

Zu diesem Zeitpunkt sind Studenten der Universität Konstanz, die am Max- Planck-Institut für Ornithologie forschen, ausgerüstet mit Kompass und Empfänger in Zweierteams im Gelände unterwegs. Tage zuvor hatten sie mit der Fledermausexpertin Dina Dechmann mehrere Tiere mit Peilsendern versehen. Jetzt wollen sie diese orten und ihre Position mehrmals exakt bestimmen. Die rhythmischen Senderpiepser erinnern an Signaltöne eines Herzmonitors. Jede Fledermaus klingt ein wenig anders. Je näher sie ist, desto lauter der Ton. Auch diese Nacht wird wieder lang. Einer misst, der andere schreibt. Manche werden bis 24 Uhr auf den Beinen sein, andere bis Sonnenaufgang. Keiner weiß, was ihm in dieser Nacht alles begegnet – Forschung mit Gruselfaktor. Doch zu zweit ist man weniger allein.

„Fledermäuse leben buchstäblich mit uns unter einem Dach, dennoch wissen wir wenig über ihre Zugrouten“, sagt Dechmann. Neben dem Sender bekommen die Tiere, die zehn bis zwölf Jahre alt werden, zur Wiedererkennung einen Mikrochip unter die Haut. „Viele ziehen regelmäßig, andere bleiben hier. Jungtiere fliegen nicht mit ihren Müttern. Aber woher wissen sie, wohin es geht? Und was die Männchen so treiben, ist gänzlich unbekannt.“ Martin Wikelski ist Leiter der Vogelwarte Radolfzell, neben Seewiesen der zweite Standort des Max-Planck-Instituts für Ornithologie. 2008 ist Wikelski von der Universität Princeton nach Radolfzell gewechselt. Auch er interessiert sich für Tierwanderungen – zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Neben diversen Vogelarten hat er Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln mit Sendern versehen, Monarchfalter in den USA und in Panama Agutis, eine bis zu 65 Zentimeter lange Nagerart. Mit modernster Telemetrie folgt er Alexander von Humboldts Vision, „die Erscheinung der körperlichen Dinge in ihrem Zusammenhang, die Natur als durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes zu verstehen“.

Und so ist der Planet für Wikelski eigentlich ein pulsierender Gesamtorganismus. „Tiere sind ständig in Bewegung. Manche nur über kurze Strecken, andere über riesige Distanzen.“ Bereits in Princeton hat er die Plattform Movebank aufgebaut, eine globale Datenbank für Tierbewegungen. Hier hinterlegen nun Forscher aus aller Welt die Bewegungsdaten von Wildtieren. Mit einem Klick lässt sich so der Zug von Möwen, die in Finnland und Russland markiert wurden, bis nach Istanbul und zum Victoriasee in Ostafrika nachvollziehen. Oder die vergleichsweise kurzen Wege, welche die Agutis im Regenwald zurücklegen.

Nagetiere verbreiten Baumsamen

Diese Nager fressen Samen von Tropenbäumen, zum Beispiel Paranüsse, vergraben aber auch einen Teil davon für schlechte Zeiten. Die Forscher hatten deshalb Nüsse mit Sendern und Magnetkontakten bestückt. Wurde eine der Nüsse bewegt, löste der Magnet Alarm aus. Auf diese Weise konnten die Biologen die Nüsse von ihrem Mutterbaum auf dem Weg durch den Urwald verfolgen. Über das Jahr hinweg hatten Agutis beispielsweise eine Nuss 36-mal ausgegraben und neu versteckt. Sie wanderte dadurch 600 Meter weit durch den Regenwald. Dies erhöht ihre Chance, zu keimen und selbst einmal zum Baum zu werden.

„Wir kennen vielleicht ein Prozent der Lebenszeit von Wildtieren, denn ihre Beobachtung war bisher nur punktuell möglich“, sagt Wikelski. „Unsere Sender tragen die Tiere aber ihr ganzes Leben mit sich herum.“ Die Geräte messen zudem nicht nur Ort und Zeit, sie können auch Temperatur, Beschleunigung, Geschwindigkeit und sogar die Herzfrequenz wahrnehmen. Da jede Verhaltensweise typische Beschleunigungsmuster aufweist, erlauben die Daten sogar Rückschlüsse darauf, was ein Tier gerade tut. So verraten die Sender zum Beispiel, wie viele Fichtennadeln ein Auerhuhn frisst. Bei jeder Art, die sie verfolgen, entdecken die Forscher neue Verhaltensweisen. „Im Grunde revolutionieren wir mit dieser Technik auch die Verhaltensbiologie.“

Bei ihren Wanderungen transportieren viele Tierarten Pflanzensamen und tragen so wesentlich zur Artenvielfalt bei. Manche Samen reisen im Verdauungstrankt von Zugvögeln rund um den Globus. Insekten tragen Blütenpollen mit sich und bestäuben damit Pflanzen.

Durch die Rund-um-die-Uhr-Beobachtung bekommen die Forscher mitunter ein vollkommen neues Bild einer Art. Vermeintliche Samenvernichter werden dann schon mal zu Samenausbreitern, wie das Beispiel der Fettschwalme aus Venezuela zeigt. Der Vogel, der so ölhaltig ist, dass er ausgekocht oder getrocknet und im Stück als Fackel verwendet wurde, galt als der Schmarotzer des Regenwaldes. Fettschwalme leben tagsüber in Höhlen und fliegen nachts aus, um Früchte zu fressen. Zurück an ihren Schlafplätzen scheiden sie die Samen wieder aus. Keine Chance für die Samen zu keimen – dachte man.

„Wir haben zwei Vögel gefangen und mit Sendern versehen. Am nächsten Morgen sind wir in die Höhle rein – kein Vogel!“, erzählt Wikelski. „Wir fingen die nächsten. Auch sie kamen nicht zurück.“ Ein dritter Versuch, und siehe da: Tags darauf waren die ersten markierten Tiere wieder da. „Eine komplett andere Geschichte: Sie fliegen einen Baum an, fressen ein paar Früchte, sitzen dann 100 Meter entfernt und spucken die Kerne wieder aus: die erste Samenverbreitung. Dann geht es weiter zum nächsten Baum.“ Nach der letzten Mahlzeit fliegen sie einen manchmal bis zu 80 Kilometer entfernten Schlafbaum an, wo sie weitere Kerne fallen lassen. Erst danach kehren sie zur Höhle zurück.

In der Humboldt-Höhle in Venezuela leben nach bisherigen Schätzungen 10 000 Fettschwalme. Nun gehen die Forscher von dreimal so vielen aus, denn die in den Bäumen übernachtenden Tiere sind bislang nicht erfasst worden. Erst mit den Sendern ist es dem Team aus Radolfzell gelungen, einen der tatsächlichen Haupt-Samenverbreiter am Andenabhang des Amazonasgebiets zu identifizieren.

Wandernde Fasane im Himalaya

Wo auch immer die Forscher ihre Sender einsetzen, stoßen sie auf Unerwartetes. Zum Beispiel bei den Höhenwanderungen der Blutfasane im Himalaja. Solche Untersuchungen sollen Aufschluss darüber geben, ob alle Tierwanderungen ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. „Wir dachten, wenn oben Schnee fällt oder es zu kalt wird, ziehen sie in die Täler. Manche gehen aber nur drei Täler weiter und bleiben auf gleicher Höhe. Und ich meine tatsächlich ,gehen’. Bei ihren Wanderungen fliegen sie nämlich nicht, sondern laufen die Berge rauf und runter.“

In Bhutan beobachtete Wikelski auch Schwarznackenkraniche, um zu verstehen, wie die Tiere große ökologische Barrieren überwinden. Die Vögel ziehen regelmäßig von China über die höchsten Pässe des Himalaja und überwintern in Bhutan. Manche fliegen sogar über die höchsten Berggipfel der Welt. Aus Flugzeugen wurden Schwarznackenkraniche schon in 9000 Meter Höhe gesichtet. „Keine Ahnung, wie sie in dieser Höhe überhaupt fliegen können.“

Auf ihren Wanderungen nehmen Tiere in Pelz, Federkleid oder Darmtrakt auch unerwünschte Passagiere über weite Strecken mit: Parasiten, Pilze, Bakterien und Viren. Darunter solche, die auch den Menschen befallen können und Krankheiten wie Borreliose, SARS, Tollwut oder Vogelgrippe auslösen. Ob sich die Existenz einer Tierart in der Summe positiv oder negativ auf die Umwelt auswirkt, ist manchmal schwer zu sagen. Nützling im Sinne der Biodiversität oder Risikofaktor für Mensch und andere Arten?

Das ist auch bei afrikanischen Flughunden die Frage, deren Verhalten Wikelskis Mitarbeiterin Dina Dechmann in Ghana erforscht. Eidolon helvum, der Palmenflughund, ist ein Langstreckenflieger und legt schon mal 1500 Kilometer quer über den Kontinent zurück. Die Tiere stehen in Verdacht, Krankheitserreger zu verbreiten. Bei manchen Stämmen gilt er als potenzsteigernde Delikatesse und wird mit Schrotgewehren abgeschossen. Ein Grund, warum die Population inzwischen drastisch abgenommen hat.

„Ältere Studien deuten darauf hin, dass dies eine Schlüsselart für den afrikanischen Regenwald ist, weil sie Samen effizient verbreitet“, erzählt die Schweizer Biologin. 96 Prozent der Bäume sollen demnach aus den Ausscheidungen der Flughunde hervorgegangen sein. Ungewöhnlich, denn die meisten Früchtefresser bleiben entweder ständig unter dem Kronendach der Tropenbäume, die sie ernähren, oder sie scheiden ihre Nahrung gleich vor Ort wieder aus.

Der Palmenflughund dagegen hat einen eher trägen Darm, und 100 Kilometer Anflug auf einen Fressbaum sind für ihn ähnlich wie bei den Fettschwalmen nicht der Rede wert. Er fliegt nach der Mahlzeit sogar die gleiche Distanz wieder zurück. Zurzeit untersucht Dina Dechmann mit ihrem Team eine Kolonie von rund 300 000 Tieren in Akkra. „Während der Wanderschaft kann diese Art locker bis zu 400 Kilometer in einer Nacht zurücklegen. Uns interessiert, ob und wie die Gruppenmitglieder dieser hochsozialen Art dabei miteinander kommunizieren.“

Die Ortung ist noch mühsam und gelingt nur tagsüber beim Zwischenstopp im Schlafbaum. Denn solarbetriebene Sender funktionieren bei nachtaktiven Tieren noch nicht gut, obwohl die Tiere tagsüber in den Bäumen hängen. Aus diesem Grund entwickeln die Wissenschaftler neue, leistungsstarke GPS-Sender, die permanent Daten senden können.

Beobachtungsposten im Weltraum

Solche Sender sind für ein weiteres Großprojekt Martin Wikelskis von zentraler Bedeutung: International Co-operation of Animal Research Using Space – kurz: Icarus. Icarus steht für Wildtierbeobachtung aus dem All. Milliarden Singvögel, Fledermäuse, selbst Insekten ziehen Jahr für Jahr weite Strecken. Welche ökologischen Auswirkungen ihr Zugverhalten hat und wie der Klimawandel die Wanderungen beeinflusst, ist bisher weitgehend unbekannt.

Die modernen Sensoren sind so winzig, dass auch Libellen damit durch die Lüfte schwirren. „Wir können damit sogar den Zug von Insekten verfolgen“, erzählt Wikelski. „Künftig werden wir Vorhersagen machen können, wo etwa Heuschreckenschwärme in Afrika auftreten.“ Hightech als Speerspitze im Kampf gegen Hungersnöte.

„Manche belächeln den Namen“, sagt Wikelski schmunzelnd. „Man weiß ja, wie es Ikarus einst erging!“ Der griechische Sagenheld endete tragisch: Als er mit seinen selbst gebastelten Flügeln der Sonne zu nah kam, schmolz das Wachs, und er stürzte ins Meer – eine Gefahr, die diesem Vorhaben sicher nicht droht. Denn die Sender schicken ihre Daten zunächst an die Raumstation ISS, später an Satelliten. Die Europäische Weltraumbehörde und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt haben längst nicht nur grünes Licht gegeben, sondern auch viel Geld für Icarus zugesagt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die National Science Foundation der USA sind ebenfalls mit an Bord und sichern die Datenanalyse über die Movebank-Datenbank.

Eine Studie mit Ziegen auf Sizilien zeigt, welch ungeheuren Nutzen solche Daten haben könnten. Demnach lassen sich Tiere auch als Biosensor für bevorstehende Naturkatastrophen einsetzen. „Über sechs Monate haben wir am Ätna verfolgt, wie die Tiere den Berghang hoch- und runterklettern.“ Wikelski zoomt sich auf dem Bildschirm in die Umgebungskarte des Vulkans. Durch Klicks auf die Bewegungslinien lassen sich Tag und Uhrzeit ablesen. Die Linien bilden ein wildes Kurvenmuster, in dem sich ruhige Linien mit kurzen Zacken- Intermezzos und heftigen Peaks abwechseln: Nachtschlaf, wilde Sprünge bergauf oder bergab, Futterpausen, kleine Nickerchen. Wikelski sucht einen bestimmten Punkt der Linie heraus. „Hier! Um ein Uhr nachts wurden die Ziegen plötzlich völlig unerwartet sehr aktiv. Gegen 7 Uhr brach der Vulkan aus.“ Schon in der Antike wurde auffälliges Tierverhalten vor Erdbeben beschrieben.

Ein „Ziegendetektor“ für geologische Großereignisse – warum nicht? Schließlich haben Elefanten das Seebeben im Indischen Ozean gespürt, lange bevor die erste Welle des Tsunamis die Küsten erreichte. Einheimischen, die den fliehenden Dickhäutern instinktiv ins Landesinnere folgten, rettete dies das Leben. Die Idee für ein solches biologisches Frühwarnsystem ist inzwischen als Patentanmeldung eingereicht.

„Wie gerne säße ich an einem schönen Morgen auf dem Rücken des Gänserichs Martin“, dachte der Junge. „Wie prächtig wäre jetzt ein Ritt durch die warme stille Luft da droben, von wo ich auf die mit grünem Gras und mit herrlichen Blumen geschmückte Erde herunterschauen könnte!“ Natürlich hat auch Martin Wikelski als Kind Selma Lagerlöfs Nils Holgersson gelesen. Die fantastische Geschichte des Jungen, der auf dem Rücken eines zahmen Gänserichs mit den Wildgänsen flog. Er schmunzelt. „Im Grunde machen wir jetzt genau das! Wir setzen uns quasi mit einer Brille auf ein Tier und fliegen mit. Bald werden uns millimeterkleine Kameras sogar zeigen können, was das Tier dabei sieht.“

 

Auf den Punkt gebracht:
Wandernde Tiere haben großen Einfluss auf die Ökosysteme der Erde. Sie transportieren Pflanzensamen und andere Tierarten und fördern deren Verbreitung.
Auch Krankheitserreger und Parasiten können auf diese Weise große Distanzen zurücklegen.
Die Icarus-Initiative soll ein satellitengestütztes System zur permanenten Beobachtung selbst kleinster Tiere wie etwa Insekten rund um den Globus entwickeln.

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