Unerklärliche Vielfalt des Alterns
Neue Daten belegen, wie unterschiedlich Alternsprozesse ablaufen – und wie wenig die Wissenschaft weiß, warum
Obwohl Alterung momentan in den Medien Dauerthema ist, haben Wissenschaftler keine schlüssige Erklärung dafür. Neue demografische Daten von Menschen, Tieren und Pflanzen decken eine solch außerordentliche Vielfalt von Alterungsverläufen auf, dass jede evolutionäre Theorie bei deren Begründung versagt. Sowohl die Lebensspannen als auch die Sterblichkeiten unterscheiden sich je nach Spezies. Selbst die Tatsache, dass mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit zu sterben, zunimmt, stimmt zunächst für den Menschen, gilt aber nicht grundsätzlich. Das zeigt ein einzigartiger Katalog von 46 Arten und deren jeweiligen Sterblichkeiten und Geburtenraten, der nun im Wissenschaftsjournal Nature veröffentlicht wurde. Er ist das Ergebnis jahrelanger Datensammlung unter der Leitung von Wissenschaftlern des Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock und des Max-Planck Odense Centers on the Biodemography of Aging (MaxO) in Odense, Dänemark.
Die bisherigen Erklärungen für den Alternsprozess scheitern nicht nur an höchst unterschiedlichen Lebensspannen von wenigen Tagen (Fruchtfliege) über Jahrzehnte (Mensch) bis hin zu Jahrhunderten (Süßwasserpolyp), sondern auch an den Sterblichkeiten. Gängige Theorien gehen davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben mit dem Alter zunimmt – wie beim Menschen. Nun katalogisierten die Forscher jedoch Arten wie Mangroven oder die Kalifornische Gopherschildkröte, deren Wahrscheinlichkeit zu sterben mit dem Alter sinkt. Auch die Fruchtbarkeitsperioden einiger Spezies fordern die Theorien heraus. „Unsere Studie führt uns vor Augen, dass Altern eins der am wenigsten verstandenen Phänomene der Biologie ist“, sagt Owen Jones von MaxO. „Die von uns nachgewiesene Vielfalt der Alterungsmuster war unerwartet angesichts der Voraussagen klassischer Theorien zur Evolution des Alterns“, ergänzt Alexander Scheuerlein vom MPIDR.
Bisherige Versuche, die Alterung evolutionär zu begründen, gehen davon aus, dass ein Lebewesen nur so lange in den Erhalt seines Körpers investiert, bis es sich erfolgreich vermehrt und seine Nachkommen großgezogen hat. Je näher das Ende der Fortpflanzungsphase rückt, desto mehr müsste der Körper demnach verfallen – er altert. Für den Menschen trifft das allerdings nur bedingt zu: Zwar gibt die Nature-Studie für moderne Japanerinnen an, dass ihre Sterblichkeit beständig steigt. Dennoch leben die Menschen weit bis über die Zeit hinaus, in der sie Kinder bekommen. Sie bleiben heute oft bis ins Großelternalter fit und ihre Sterbewahrscheinlichkeit entsprechend klein. Erst in höherem Alter wächst die Sterblichkeit rapide an und erreicht für Japanerinnen mit etwa 100 Jahren sogar das über 20-Fache des Lebensdurchschnitts.
Damit ist der Mensch aber ein absoluter Außenseiter. Für keine andere Spezies im Katalog der Forscher steigt die Sterbewahrscheinlichkeit so radikal an. Selbst unter Säugetieren erreicht sie höchstens das Fünffache des Lebensdurchschnittes. Wieso die Evolution solch große Unterschiede hervorgebracht hat, ist Biologen bisher ein Rätsel.
Für etliche Arten steht die Alterung Kopf
Vollends kapitulieren die aktuellen Denkmodelle angesichts zweier Gruppen von Spezies, für die die Alterung buchstäblich Kopf steht: Zum einen gibt es Arten, deren Sterblichkeit sich über das gesamte Leben nicht verändert, wie den Süßwasserpolypen Hydra oder den Einsiedlerkrebs. Ihr Körper scheint nicht zu degenerieren, während die Lebenszeit verstreicht. Andere Arten erleben mit zunehmendem Alter sogar, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben immer kleiner wird: etwa die Farbwechselnde Gorgonie (eine Koralle), die Eiche mit dem lateinischen Namen Quercus Rugosa oder die Kalifornische Gopherschildkröte. Auch sie sind irgendwann tot, denn ihr Sterberisiko wird niemals Null. Aber wenn sie alt sind, ist es für sie wahrscheinlicher, den nächsten Geburtstag zu erleben, als in der Jugend.
Mit noch einer Vorstellung räumt die neue Datensammlung auf: Dass Spezies, die besonders kurz leben, am stärksten altersbedingt abbauen. Manchmal ist eher das Gegenteil wahr: So verläuft die Sterblichkeit der Nordischen Wühlmaus ziemlich stabil – sie steigt zum Lebensende lediglich auf knapp das Doppelte des Lebensdurchschnitts. Trotzdem wird diese Wühlmaus fast nie älter als ein Jahr. Menschen hingegen erleben inzwischen immer häufiger ein ganzes Jahrhundert, obwohl ihr Sterberisiko mit dem Alter geradezu in den Himmel schießt (bis auf über das 20-Fache des Lebensdurchschnittes).
Daten weisen Weg zu einheitlicher Theorie des Alterns
„Erstaunlicherweise scheint es in der Natur kaum einen Typ von Lebensverlauf zu geben, den man nicht finden kann“, sagt MaxO-Forscher Owen Jones. Das gelte nicht nur für die Sterblichkeit, sondern auch für die Fruchtbarkeit. Während menschliche Frauen nur in einer recht kurzen Phase in der ersten Lebenshälfte Kinder bekommen und dann unfruchtbar werden, nimmt die Fertilität etwa für den Alpensegler bis kurz vor dem Lebensende kräftig zu. Und der Steppenpavian bekommt sein Leben lang Junge, ohne dass sein Alter daran viel ändern würde.
„Uns fehlt auch deswegen immer noch eine einheitliche Theorie des Alterns, weil uns die bisher sehr spezielle Auswahl biologischer Daten den Blick versperrt hat“, sagt Biodemograf Alexander Scheuerlein vom MPIDR. So gäbe es schon lange hochwertige demografische Angaben für Hunderte von Säugetieren und Vögeln, kaum aber für andere Wirbeltiere oder wirbellose Arten. Extrem wenig wisse man über Algen, Pilze und Bakterien. Um zu verstehen, warum die Evolution das Altern geschaffen hat, müssten endlich umfangreichere Daten über alle Arten gesammelt werden.